Kammern drängen in die Landesverfassung – geht’s noch?

01.03.2022 Aus Von ED-as_Blog-17

Vertreter von 14 Bundesländern schauen im Norden nach Bremen, im Süden nach Saarbrücken. Dort wohnen/arbeiten/leben die vollglücklichen Vorbilder der arbeitenden Menschheit unseres 83-Millionen-Volkes. Vierzehn Bundesländer hungern nach Informationen, wollen endlich auch so etwas Beglückendes wie eine Arbeitnehmerkammer (Bremen) oder „Arbeitskammer des Saarlandes“ in den eigenen Landesgrenzen haben. Endlich. Juchhu. Es geht aufwärts mit Deutschland.

Stopp! Nicht die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist plötzlich spinnert, sondern – ich muss es zugeben – der Autor des von Ihnen offenbar geschätzten Blogs. Aber, keine Bange, (noch) neige ich nicht zur Verblödung. Vielleicht eher zur gewollten Überzeichnung.

Um es mal eben mit klarem Verstand einzuwerfen: Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg – die 14 haben über alle Partei- und Glaubensgrenzen hinweg eines gemeinsam: Sie denken nicht einmal im Entferntesten daran, Arbeitnehmerkammern, die über Zwangsbeiträge finanziert werden, einzurichten. Nicht im Traum!

Bloß bei uns, da wird bekanntlich gern geträumt. Hier haben Arbeitnehmerkammer, Handelskammer und Handwerkskammer ein gemeinsam formuliertes und den Bürgerschaftsfraktionen vollen Ernstes vorgetragenes Ziel: Sie möchten in der Landesverfassung verankert werden. Geht’s noch? Wozu soll das gut sein? Wem bringt das was? Salopp: Ist der Porzellanladen noch komplett?

Auskunft zur Gemüts-Verfassung der drei Kammern erhält man leider nur rudimentär. Der Weser Report hatte dies versucht und ein wenig enttäuscht notiert: „Doch äußern möchten sie sich zu ihrem Vorstoß kaum, nicht die Handelskammer, nicht die Handwerkskammer nicht und nicht die Arbeitnehmerkammer.“

Einen fast schon grandios verschwiemelten Satz entrang der Kollege den dreien von der Mautstelle: „Eine verfassungsrechtliche Einbeziehung der Kammern stärkt die Legitimation der Entscheidungen der Politik.“ Ah, ja. Das lassen wir uns einen kurzen Moment auf der Zunge zergehen. Ein gnadenlos gedrechselter Satz, den man früher wohl eher vom Nebel-Kommando des SED-Öffentlichkeits-Kader erwartet hätte als von drei Körperschaften öffentlichen Rechts unserer Zeit.

Bei Lichte betrachtet, bedeutet er: Wenn wir Kammern euch Politiker  vor Entscheidungen beraten, hebt dies eure Legitimation. Aber eben nur/oder besser, wenn wir drei Kammern in der Landesverfassung verankert sind.

Mal gaanz am Rande: Haben die drei vor lauter Eifer vergessen, dass es in Bremen eine weitere Körperschaft öffentlichen Rechts gibt? Die Landwirtschaftskammer

Was muss da bloß Bremens oberster Repräsentant und Betreiber eines Milchvieh-Hofes – Bürgerschaftspräsident Frank Imhoff – von den Verfassungs-Kämpfern denken?

Ich äußere schon mal – mittendrin und voreilig – einen Verdacht: Könnte es sein, dass diese Kammer-Maut-Beauftragten per Absicherung in der Verfassung darauf spekulieren, eine Endlos-Lebens-Garantie für alle folgenden Generationen inklusive finanzieller Absicherung zu erhalten?

Betrachten wir uns das Thema einmal in Zahlen.

Die Arbeitnehmerkammer (Körperschaft des öffentlichen Rechts) verfügt über mehr als 400.000 Mitglieder. Die Kammer-Oberen kennen die aber leider zu schätzungsweise 99,9 Prozent nicht. 

Die über 400.000 Frauen und Männer entrichten monatlich 0,15 Prozent ihres Bruttolohnes an die Kammer. Sorry, falsch. Korrekt: Der Arbeitgeber behält – ob die Frauen und Männer das wollen oder nicht – 0,15 Prozent vom Brutto ein, überweist die Summe ans Finanzamt. Und diese Behörde – im Weiterleiten von Abgaben etwa der Kirchensteuer bestens geschult – schickt den Betrag an die ArbeitnehmerkammerZahlen müssen übrigens alle mit mehr als 450 Euro Verdienst – ja, auch Azubis. Frei von dieser Abgabenlast bleiben dagegen unsere Beamtinnen und Beamten. Na, dem Himmel sei dank. Die können den Betrag mitsamt den Beamten erlassenen  Abgaben für die Renten- und Arbeitslosenkasse bestimmt gut anderweitig verwenden.

Die Arbeitnehmerkammer leistet sich von den Einnahmen in Höhe von 19,28 Millionen Euro (inkl. staatlicher Entgelte) Büros in der Bremer City, in Bremen-Nord und in Bremerhaven. Beschäftigt sind dort 142 „Mitarbeitende“. Die Kammer verfügt über Gremien wie Vollversammlung, Vorstand und Präsident. Das ruft nach einer wohl organisierten Wahl, welche die Gewerkschaften indirekt gerne übernehmen. Die Kandidatur eines einzelnen Arbeitnehmers für die Vollversammlung ist nahezu aussichtslos. Wie soll ein einzelnes Menschlein sich in den vielen Betrieben bekannt machen und um Stimmen werben, ohne auf einer Gewerkschaftsliste zu stehen? Mission impossible…

Ein Blick in die Vollversammlung (Stand 1.1.2021) lässt einem die Augen übergehen: 34 der 35 Mitglieder gehören einer DGB-Gewerkschaft an. In der Reihenfolge von Platz 1 bis Platz 34: ver.di, IG Metall, NGG, IG Bau, ver.di, IGM, IG BCE, ver.di, IGM, IG Bau, ver.di, IGM, NGG, GEW, EVG, IGM, GdP, ver.di, IGM, NGG, ver.di, IGM, ver.di, IGM, ver.di, IGM, verdi, IGM, ver.di IGM, ver.di, ver.di, ver.di, verdi.

Auf Platz 35 folgt der Ausreißer: DHV (ursprünglich: Deutscher Handlungsgehilfenverband – heute – ernsthaft – unter Umgehung der deutschen Rechtschreibung: „DHV – Das heißt Vertrauen“). Der Verein gehört dem CGB an, bedeutet: Christlicher Gewerkschaftsbund und hat vor zwei Jahren das traurige Schicksal erlitten, laut Landesarbeitsgericht Hamburg (Sitz des Vereins) „nicht mehr tariffähig“ zu sein.

Wenn ich schon dabei bin (Kurzleser mögen mir verzeihen, oder jetzt – zumindest für zwischendurch – aus dem Text aussteigen): Jedes der 34plus1-Mitglieder hat in der Vollversammlung nicht einen, sondern vorsichtshalber gleich zwei Stellvertreter. Wobei ich annehme, dass sie in dieser Kammer von „Stellvertretenden“ oder so ähnlich sprechen. Ist mir aber auch wirklich Wurst.

Weiter geht’s, nicht schlapp machen, liebe Leserinnen und Leser: „Das geschäftsführende Organ der Selbstverwaltung“ ist der Vorstand. Ihm gehören 7 Mitglieder an, darunter der Präsident (ver.di), zwei Vizes (IGM und NGG) und vier Beisitzer/innen (so das Verzeichnis) – ver.di, GEW, ver.di und IG Metall.

Geschafft. Neeeeee!

Irgend jemand muss ja die Mitarbeitenden anleiten, betreuen, beaufsichtigen, loben, tadeln – was weiß ich.

Dafür gibt’s hauptamtliche Häuptlinge und Gehilfen. Hauptgeschäftsführer, Geschäftsführerin, Abteilungsleiter und -innen und und. Insgesamt finanzieren alle in Bremen Tätigen (also auch Pendler aus Niedersachsen) „gut 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. 

Ich will nichts verheimlichen und zitiere deshalb aus dem Aufgaben-Katalog der Arbeitnehmerkammer: Rechtsberatung, Mitbestimmung und Technologieberatung, Politikberatung, Wirtschafts- und Sozialakademie.

Den Wunsch nach Verfassungsrang haben bekanntlich mit Verve auch die Handelskammer und die Handwerkskammer geäußert.

Die Aufzählung fällt etwas einfacher aus. Alle bremischen Betriebe finanzieren diese beiden Kammern über umsatzabhängige Abgaben. Die Handelskammer, beschäftigt 99 hauptamtliche Mitarbeiter, darunter neun als Mitglieder der Geschäftsleitung. Laut Geschäftsbericht erhalten diese 9 zusammen knapp 1,45 Millionen Euro. Der Hauptgeschäftsführer bekommt davon rund 279.000 Euro (Festgehalt und variabel). Zum Vergleich: Bürgermeister Dr. Andreas Bovenschulte wird monatlich mit 13.869 Euro (vergleichsweise) abgespeist. Mehr als 100.000 Euro weniger als der Handelskammer-Chef-Geschäftsführer.

4.260 Frauen und Männer sind ehrenamtlich für die Handelskammer tätig, viele davon in Prüfungsausschüssen. Alle Kammermitglieder wählen aus ihren Reihen das Plenum, das wiederum das zehnköpfige Präsidium und dieses den/die  Präses an der Spitze.  

Die Handwerkskammer funktioniert von der Struktur her wie die Handelskammer. Sie beschäftigt 38 MitarbeiterInnen.

Die Handwerkskammer befindet sich – nach meiner Einschätzung ständig im Spannungsfeld zwischen der Kreishandwerkerschaft mit aktuell 28 Innungen und den Innungen selbst, in denen die einzelnen Gewerke organisiert sind. Auch die Handwerkskammer kümmert sich um die Abnahme von Prüfungen im Handwerk.

Wahnsinn! Wissen Sie viele Zeichen (inkl. Leeranschlägen) Sie sich in diesem „Bildungsstück“ bis hierher reingezogen haben? 7.748!

Noch mal kurz zur von den drei Kammern gewünschten Verankerung in der Landesverfassung. Dafür müssen zwei Drittel aller Bürgerschaftsabgeordneter stimmen. Die SPD hat sich offenbar breitschlagen lassen, bei den Grünen gibt es Widerstände, die Linken scheinen nicht begeistert. Bei der FDP bremst man und bei der CDU sind keineswegs alle happy. Mal schauen, was den Herren Kammer-Boys jetzt noch an Argumenten einfällt…

Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe, Sie sind jetzt nicht ermattet und fühlen sich ein wenig besser informiert als vor Ihrem Kampf über den Zahlen- und Fakten-Berg.

Bleiben Sie munter!

Herzlichst

Ihr as

Axel Schuller