Hamburgs Bildung wird besser, die Bremer nicht. Warum? Ein Beispiel aus dem richtigen Leben

08.06.2022 Aus Von ED-as_Blog-17

Liebe Leserinnen und Leser, ich warne Sie vorsichtshalber mal vor: Heute müssen Sie nämlich echt tapfer sein. Für Empfindsame: Legen Sie sich ein paar Papier-Taschen-Tücher zur Seite.

Heute geht’s um die Bildung. Und was man besser machen könnte, es aber nicht tut. Es ist – gelinde gesagt – zum Heulen.

Bremen will eine Ausbildungsabgabe einführen, liefert den Betrieben aber Schüler, denen es sogar an den Grundfertigkeiten mangelt. Ja, und dazu gehören auch so Basics wie Pflichtbewusstsein (pünktlich am Ausbildungsplatz zu erscheinen). Gelte jetzt vermutlich als total uncool. Kenne aber das richtige Leben, liebe Wirklichkeits-Theoretiker.

Zur Einstimmung – und damit Sie nicht denken, ich würde maßlos übertreiben – zitiere ich aus Unternehmer-Leserbriefen. Da schreibt einer: „Die Ausbildung an den Schulen hat so stark nachgelassen, dass viele Unternehmen nicht ausbilden, weil sie keine Zeit haben, die mangelhafte schulische Ausbildung auszugleichen.“ Es fehle „nicht nur an Mathematik-Kenntnissen, sondern an elementarem Grundwissen… Die Schulbehörde hat darauf mit unsinnigen Projekten, wie keine Noten, kein Sitzenbleiben, Abschaffung von Haupt- und Realschulen reagiert.“ 

Ein anderer Unternehmer merkt an: „Die Bremer Kandidaten scheitern fast immer an sehr einfachen Dreisatz-Aufgaben. Deswegen stellen wir vornehmlich Niedersachsen ein.“ 

Bremens Bildungspolitiker haben dafür stets zwei Antworten parat: „Wir tun ja alles Erdenkliche, aber die hohe Zahl von Schülern mit migrantischem Hintergrund und aus armen Haushalten machen halt alle Bemühungen zunichte.“

Auf diese feige – ja, weil seit Jahrzehnten benutzte – eigentlich schon freche Ausrede gibt es spätesten jetzt eine Antwort. Und die ist zugleich eine schallende Ohrfeige für Bremens Bildungspolitiker. Noch schlimmer: Diese Antwort kann fast vor der Haustür bestaunt und nachgemacht werden. In Hamburg existiert eine Grundschule, die es geschafft hat, die bereits von Haus aus Abgehängten fit zu machen. 

Liebe Leserinnen und Leser, reagieren Sie jetzt bitte nicht wie viele Bürgerschaftsabgeordnete m/w/d in meiner aktiven Zeit als Parlaments-Berichterstatter, wenn es in der Bürgerschaft um das Thema Bildung ging: Flucht aus dem Plenarsaal hinüber in die Lobby: schnacken, telefonieren, rauchen (dafür müssen die Armen mittlerweile vors Gebäude gehen). Also, bleiben Sie bitte bei mir. Es lohnt sich. Nicht nur, weil es um die Zukunft unserer Gesellschaft geht.

In Hamburg existiert eine Schule in einem sozialen Brennpunkt. Davon haben wir in Bremen bekanntlich mehr als uns lieb ist. In dieser Hamburger Grundschule in Kirchdorf (Teil von Wilhelmsburg, nahe der A1 Raststätte Stillhorn) haben 90 Prozent der Kinder einen migrantischen Hintergrund, rund 50 Prozent der Familien leben von staatlicher Unterstützung.

Kommt Ihnen bekannt vor? Ein Bremer Lehrer berichtet beispielsweise auf „LinkedIn“ von seiner 5. Klasse in einem Bremer sozialen BrennpunktAlle Kinder haben einen Migrationshintergrund, kommen aus ca. 80 Nationen, ca. 2/3 der Familien bekommen staatliche Hilfen. Wir sehen: Hamburg ist in Bremen. Mit einem Unterschied: Die Bildungsbehörde in Hamburg kümmert sich um die Weiterentwicklung der Bildung. In Bremen ist es dagegen – einfach zum Heulen.

Falls Sie, geneigte Leserinnen und Leser, jetzt keinen Bock mehr haben, meine Nacherzählung zu lesen, empfehle ich Ihnen die Lektüre eines Artikels. Der hat mich regelrecht angerührt. „Was Kinder an Brennpunktschulen wirklich brauchen“; erschienen im SPIEGEL Nr. 21/2022. Die Überschrift ist verheißungsvoll: „Lesen, ordnen, fordern“.

So, für jene, die noch Lust auf meine grobe  Zusammenfassung der Infos haben: In der Schule Kirchdorf hat eine regelrechte Leistungs-Explosion stattgefunden. Und  das – wie ich finde – dank relativ einfacher Mittel. Mit der Folge, dass mittlerweile Kinder aus direkt benachbarten Mittelklasse– (und noch besser gestellten) Haushalten in dieser einst verpönten staatlichen Grundschule angemeldet werden.

Das Rezept der „Musterschule“ grob zusammengefasst: Die Grundschulzeit wird um ein Jahr ausgedehnt – nach vorn, also vor den vier Schuljahren wird zur Schul-Vorbereitung eine Vorklasse eingeführt. Morgens um 8.50 Uhr ist Lesezeit in allen Klassen. Jeweils 20 Minuten lang. Durchs bessere Leseverständnis steigern sich die Kinder im Fach Rechnen – klar, sie kapieren die Aufgaben besser.

Alle Lehrerinnen und Lehrer haben Mini-Xylofone (groß wie ne Tafel Schokolade). Sobald störende Unruhe in den Klassen aufkommt, streichen die Pädagogen über die „Schokolade“. Und: Augenblicklich kehrt Ruhe ein. Alle Kinder sitzen stets auf ihrem festen Platz. Auf den Tischen liegt nur das, was gebraucht wird. Jacken hänge an den Garderoben – und nur dort. Mülleimer sind geleert, die Fenster sind stets geputzt. Wer etwas sagen möchte, meldet sich und spricht, wenn ihm das Wort erteilt ist. Ich weiß, klingt total spießig, wirkt aber.

Weiterer Kern des Konzepts: Alle Lehrerinnen und Lehrer besprechen haarklein, wie sie auf „Vorkommnisse“ reagieren. Alle gleich! Das fördert laut dem hoch-engagierten Schulleiter die VerlässlichkeitOrdnung und Routine – heißt es in dem SPIEGEL-Artikel – vermittelten den Kindern Sicherheit. Erziehungswissenschaftler erklären weiter. Es gäbe nichts Verheerenderes als ständig wechselnde Regeln. Eine Regel ist beispielsweise, dass die Lehrkräfte von ihren Schülern mit einem „Guten Morgen“ begrüßt werden. 

Die Hamburger Pädagogen m/w schwören auf den neuen Weg. Deshalb gibt’s auch kein Murren, dass die Klassenzimmer-Türen stets offen sind und Kollegen und Schulleiter stets hören können, ob’s – wie geplant und besprochen – läuft

Ich vermute, dies ist die Basis des Projekts: Lehrer und Lehrerinnen machen sich frei von der Individualisten-Denke, die Lehrkräfte häufig gerne pflegen. 

Und jetzt das Dollste: Das neue Konzept geht auf. Die Kinder schaffen deutlich bessere Leistungen, ihr Weg ins Leben wird sich leichter gestalten. Die alte ur-sozialdemokratische Lehre, wonach jeder alles werden kann, scheint in Hamburg in Erfüllung zu gehen. Inzwischen arbeiten an der Elbe 40 Schulen nach diesem Konzept, das ich natürlich nur sehr unzureichend darstellen konnte. Sonst wäre es ein Doppel- bis Dreifach-Blog geworden.

Liebe Leserinnen und Leser, ich merke gerade, wie mir das Herz aufgeht. Konnte ich Ihren Appetit wecken, auf eine neue, zukunftsweisende Art der Schule? Bei Interesse: Besorgen Sie sich genannten SPIEGEL-Artikel. Sie werden Ihre Freude daran haben.

Den bislang aufgrund ihrer Herkunft abgehängten Kindern wäre schon geholfen, wenn sich die zuständigen Bremer Bildungspolitiker – bitte, bitte – einmal mit diesem Bildungs-Ansatz beschäftigen würden. Und endlich den Willen aufbrächten, das eigene (erfolglose) System ohne jedes Tabu auf den Prüfstand zu stellen.

Sollten die Dienstfahrten nach Hamburg zu teuer sein (geht per 9-Euro-Ticket), melden Sie sich bitte übers Kontaktfeld meiner Seite. Ich initiiere dann eine Spendenaktion. Ehrlich. Ich wünsche mir so sehr, dass die unzähligen benachteiligten Kinder unserer Stadt endlich eine Chance für die Zukunft erhalten. Dass dies keine Utopie ist, macht uns Hamburg eindrucksvoll vor.

Bleiben Sie munter!

Herzlichst 

Ihr as

Axel Schuller