Von Atomkraft, Leserbriefen und Gabor Steingart
Als alter, weißer Mann kenne ich noch den Spruch „Kindermund tut Wahrheit kund“. Meine Abwandlung: „Leser-Stift oft Wahres trifft.“
Wie ich darauf komme? Im heutigen Weser-Kurier (5. 1. 2022) steht auf der Leserbrief-Seite 7 an erster Stelle eine Zuschrift. Sie beginnt so: „Den von den Grünen bis 2035 geplanten Wind-Energieausbau habe ich als Diplom-Ingenieur der Elektrotechnik analysiert. Das Ergebnis ist enttäuschend und niederschmetternd. Die unterbrechungsfreie Stromversorgung Deutschlands kann bei Wegfall von Kohle, Öl, Gas und Kernkraft nicht im Entferntesten gewährleistet werden. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass der Strombedarf voraussichtlich steigen wird.“
Anmerkung von mir: Denken Sie nur an die geplanten Millionen E-Autos. Die fahren mit Strom, nicht durch Gut-Zureden.
Verstehen Sie jetzt meine Analogie zum Kindermund-Spruch?
Zu dem Thema hat sich am 4. 1. 2022 auch Gabor Steingart in seinem Morningbriefing geäußert.
Ungefragter Tipp von mir: Das Morningbriefing können Sie abonnieren und morgens kostenfrei lesen. Es lohnt sich meistens.
Steingart hat, tabulos wie so häufig, folgende Rechnung aufgemacht: Deutschland hat 2020 – möglicherweise dank viel Wind und Sonne – 2,94 Terawattstunden Strom nach Frankreich geliefert. Im selben Jahr flossen jedoch 14,07 Terawattstunden Strom von Frankreich nach Deutschland. Die Bilanz dürfte sich noch deutlich verschlechtern. Deutschland betreibt seit 1. 1. 2022 nur noch 3 Atomkraftwerke, in Frankreich laufen hingegen 56 AKWs. In den USA laufen 93 Atom-Anlagen, in China sind 51 im Betrieb. In unserem Nachbarland Tschechien (grenzt an Bayern und Sachsen) brummen 6 Reaktoren.
Zur Veranschaulichung ein Exkurs in die Zahlenwelt (Mathe-Fans können gerne weiterscrolen): Auf unseren Stromrechnungen taucht der verbrauchte Strom in Form von Kilowattstunden auf. 1.000 Watt = 1 Kilowattstunde. 1.000 Kilowattstunden = 1 Megawattstunde, 1.000 Megawattstunden = eine Gigawattstunde; 1.000 Gigawattstunden = 1 Terawattstunde. Also: 1 Terawattstunde (TWh) entspricht 1 Milliarde Kilowattstunden. Mit einer TWh können 200.000 Vier-Personen-Haushalte ein Jahr lang ihren Strombedarf decken.
Bevor mich jemand daran erinnert: Ja, auch ich habe nach dem Reaktor-Unglück von Tschernobyl 1986 gegen die weitere Nutzung von Nuklear-Energie demonstriert. Und ja, Fukushima war 2011 ein erschreckendes, bedrückendes Ereignis, das zigtausendfach Unglück über die Menschen gebracht hat.
Aber: Schaut man sich die Sicherheitsstandards speziell des japanischen Werkes an, wird man feststellen: So etwas wäre bei uns niemals genehmigt worden – eine Anlage direkt am Meer, in einem erdbebengefährdeten Gebiet.
Ich bin noch immer nicht zum Atomenergie-Anhänger konvertiert. Allein schon wegen der weiter ungeklärten Endlagerung. Aber: Man muss doch feststellen, dass in Deutschland noch kein AKW abgeraucht ist. Dass die heutigen in aller Welt jüngst gebauten Werke als sehr viel sicherer gelten. Und: Dass in anderen Ländern neue Kraftwerke entstehen, die mit den ehemals Uran-betriebenen Anlagen nur wenig zu tun haben. Frankreich, das an der Grenze zu Deutschland leider noch Atom-Oldies betreibt, setzt künftig auf sogenannte Miniatur-Reaktoren. China will seinen Energiehunger aus Thorium-Anlagen stillen.
Und wir Deutschen? Machen uns einen weißen Fuß, schalten bis Ende 2022 alle AKWs ab. Wir setzen auf Wind und Sonne, schaffen es aber nicht einmal, das notwendige Kabelnetz von der Nordsee nach Bayern zu bauen. Weder im Boden noch via Überlandleitungen. Wir tun das, worin wir Weltmeister sind: Wir kaufen unseren Strom dort, wo er in Massen produziert wird – eben auch aus Atommeilern europäischer Nachbarstaaten.
Für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes noch schlimmer, wir tabuisieren mögliche neue Technologien.
Das erinnert mich fatal an die Magnetschwebebahn. Auf Grundlage der Erfindung eines Franzosen in Deutschland entwickelt und zur Serienreife (Transrapid) getrieben. Und wo werden Menschen damit befördert? In Japan und China. Das kann doch nicht unser Ernst sein/bleiben.