Höherer Mindestlohn – auch für Austräger – fegt weitere Zeitungen vom Markt
Jippie, der Mindestlohn hat an Fahrt gewonnen. 2021: 9,60 Euro. Erst am 1. Juli 2022, peng: 10,45 Euro. Und jüngst am 1. Oktober 2022: 12 Euro. Braaavo! Wirklich? Der Kerngedanke, den „Grundlohn“ so zu erhöhen, dass Menschen davon (irgendwie) leben können, ist ja richtig. Aber, es hapert mal wieder an der Umsetzung. Der Mindestlohn muss nicht nur an Voll- und Teilzeitkräfte, sondern auch an Nebenerwerbler wie Zeitungsträger gezahlt werden. Die Folge: Abo-Preise für Zeitungen werden weiter steigen, Anzeigenblätter vom Markt verschwinden – und: Trinkalarm – das Bier im Stadion wird bestimmt auch teurer :-))
Oje, Bremens Bürgermeister Dr. Andreas Bovenschulte. Was haben Sie da im Bremer SPD-Blog bloß zusammen fabuliert. Statt realistischer „Regierung“-Erklärung/Erläuterung reinstes Partei-Soldaten-Deutsch.
Bevor, Sie liebe Leserinnen und Leser jetzt denken: Hej, der Bürgermeister macht seinen Job doch ganz passabel. Sagen übrigens selbst einige eingefleischte Christdemokraten, wenn sie Bovenschulte mit dem christlichen Führungspersonal vergleichen – natürlich hinter vorgehaltener Hand.
Gleichwohl, unter dem Autoren-Hinweis „Andreas Bovenschulte“ war am 30.9.2022 auf der Seite „Der SPD Bremen-Blog“ zu lesen:
„…Die Einführung des bundesweiten Mindestlohnes hat, anders als von seinen Gegnern immer wieder behauptet, nachweislich keine negativen Folgen für den Arbeitsmarkt oder das Preisniveau gehabt…“
Toll gebrüllt, Rathaus-Löwe. Aber wie sieht die Realität aus?
Aldi, Lidl und andere Firmen zahlen inzwischen mehr als den staatlich verordneten Mindestlohn. Amazon rühmt sich ebenfalls besserer Löhne. Sie wissen schon, das ist jener gefühlt weltbeherrschende Versandhändler, über dessen Arbeitsbedingungen viele vollmundig herziehen – aber sehnsüchtig darauf warten, dass der Paketmann dreimal klingelt…
Schuller, bitte sachlich bleiben!
Okay, ich wechsele zu einer Branche, in der ich mich noch dank eigener Erfahrungen auskenne: Zu den Anzeigenblättern und Bezahl-Zeitungen. Seit 2020 hat die Zahl der Mittwochs-Anzeigenblatt-Titel bundesweit von 359 auf 254 abgenommen. Der erneut höhere Mindestlohn wird die Zahl nach Einschätzung des Bundesverbandes Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) noch weiter nach unten drücken. Das größte Problem bei der Bezahlung von Zeitungsträgern heute im Vergleich zum vor der Mindestlohnzeit (2015): Bis 2015 wurden die Träger (ein-paar-Stunden-Job) grob nach der Zahl der verteilten Exemplare bezahlt. Das böse Wort vom „Stücklohn“ mochten unsere Politiker nicht, klingt das doch nach leistungsbezogener Entlohnung, halt einfach: bäh.
Zurück zum unterschiedlichen Bezahlmodell von Zeitungsträgern. Seit Einführung des Mindestlohnes müssen Verlage ihre Träger m/w/d nach dem Arbeitszeit-Aufwand entlohnen. Ahnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, dass dieser Abrechnungsmodus deutlich teurer ist als der alte, stückbasierte?
In der Branche wird seit dem „gerechten Mindestlohn von 12 Euro“ á la Olaf Scholz, Hubertus Heil, Andreas Bovenschulte – und wie die ganzen Helden heißen – gerechnet, kalkuliert, gestöhnt, gezweifelt – und entschieden. Entfällt die Mittwochs-Ausgabe eines Anzeigenblattes, sind – je nach Auflagenhöhe – mehrere hundert bis über 1.000 „Nebenerwerbs“-Arbeitsplätze „dann mal weg“. Futschikato. Vom Arbeitsmarkt verschwunden.
Herr Bovenschulte, bleiben Sie wirklich bei Ihrer Einschätzung:„Nachweislich keine negativen Folgen für den Arbeitsmarkt“?
Der Weser-Kurier hat bereits die Reißleine für seinen 1983 gegründeten Kurier am Sonntag gezogen. Eingestellt. Zwar verbrämt als Reaktion auf geändertes Leseverhalten, Schwierigkeiten sonntags in der Früh Träger zu finden, aber eben auch wegen des erneut höheren Mindestlohnes.
Das in Bremen ebenfalls von der Mindestlohn-Erhöhung dramatisch betroffene Blatt, der Weser Report, hält sich aktuell noch wacker. Muddelt sich mittwochs mit einer um 60.000 Exemplaren geringeren Auflage irgendwie durch.
Ich wage die Prognose, dass die WR-Mittwochs-Ausgabe das laufende Jahr nicht überleben wird!
Denn zu den höheren Vertriebskosten (Mindestlohn) gesellen sich weitere erhebliche Kostensteigerungen. Druckereien arbeiten heutzutage mit Preis-Gleitklauseln, sprich: Steigen die Kosten erheblich, dürfen diese auf den Auftraggeber abgewälzt werden. Druckmaschinen werden – Achtung – mit Strom angetrieben. Klingelt’s bei Ihnen? Es gibt Druckereien, die haben als Großkunden bislang 5 Cent (plus Steuern und Umlagen) für die Kilowattstunde bezahlt. Aktuell verlangen Stromversorger 60 Cent pro Kilowattstunde. Einzige Rettung: Der Strompreisdeckel. Nicht zu vergessen: Papier ist innerhalb eines Jahres um über 200 Prozent teurer geworden.
Während der Weser-Kurier die teure Sonntags-Ausgabe losgeworden ist, bleibt am siebten Tag der Woche nur noch der Weser Report.
Der Sonntag bietet dem Blatt die Chance, künftig als einziges Medium Sonnabend-Spiele von Werder (sofern sie nicht später als 15.30 Uhr beginnen) auf Papier zu beschreiben und zu bewerten.
Schreiben und drucken bringen das Produkt aber noch nicht zum Leser und zur Leserin. Dafür benötigt man Austräger. Weit über 1.000 an der Zahl.
Die müssen laut Gesetz sonntags mindestens 18 Jahre alt sein.
Die sonntägliche Volljährigkeits-Grenze ist im Arbeitsschutzgesetz festgeschrieben. Unter diesem steinzeitlichen Gesetz leiden nicht nur Verlage hinsichtlich der Zustellung. In einer Anlage wird auch aufgelistet, wer sonntags öffnen darf, und wer nicht. So ist es der volksnahen Stadtbibliothek nicht gestattet, die wissenschaftliche Uni-Bibliothek dagegen schon. Und Museen auch.
Ist das noch Ballaballa? Nee, das ist schon lange Gaga. Da könnte sich der Arbeitsminister Heil mal – sehr bürgernah – verdient machen.
Munter bleiben!
Herzlichst
Ihr Axel Schuller