Visier hoch bei Kandidatenaufstellung, aber Finger weg vom Wahlrecht!
Vorab: Ab sofort den Bremen-Blog kommentieren!
Was, um Himmels Willen, ist bloß mit den Grünen los? Einst als basisdemokratische Graswurzel-Bewegung gestartet ist die Partei – heute nur mal den Bremer Ableger betrachtet – zu einer Partei mutiert, die gegen den Willen vieler Bürger m/w Bäume abhackt und sich nun auch noch blödsinnigerweise wie eine harmoniesüchtige Schwiegertochter vor den SPD-Karren namens „Änderung des Wahlrechtes“ spannen lässt. Im Kern geht es darum, den Einfluss der Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Landtages brutal zu beschneiden.
Das Schlimmste: Die neue Grüne Fraktionschefin Dr. Henrike Müller ist entweder ahnungslos, oder sie verbreitet im Zusammenhang mit ihrem Vorstoß für ein anderes Wahlrecht – um es freundlich zu formulieren – groben Unfug. Halten Sie bitte durch, dann liefere ich Ihnen mehrere Beweise für meine vielleicht als keck empfundene Behauptung!
Kommen wir zum Ursprung der Debatte. Die SPD hadert mit dem aktuellen Wahlrecht, weil sie nicht mehr wie früher schalten und walten kann. Nicht mehr die Partei, sondern auch Wählerinnen und Wähler entscheiden darüber, wer fortan mindestens 5.318,20 Euro an Diäten bezieht. Seit Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 2011, bereits 2019 novelliert, darf jeder Wähler fünf Stimmen verteilen. Die kann man an Parteien oder Personen geben. Seitdem schaffen insbesondere männliche Sozis den Sprung von hintersten Listenplätzen nach vorne*, sprich ins Parlament. Dabei handelt es sich häufig um Menschen mit türkischen, arabischen oder kurdischen Wurzeln.
Diese Kandidaten schaffen es, ihre migrantischen „Communitys“ zur gezielten Stimmabgabe zu bewegen. Ich bin bekanntlich kein Freund davon, um den Brei herumzureden. Deshalb hier einige Beispiele:
Der SPD-Landesparteitag hatte Nurtekin Tepe auf Platz 49 verbannt. Der Mann holte 1.329 Personenstimmen – und zog ins Parlament ein. Mehmet Ali Seyrek stand auf dem abgeschlagenen Listenplatz 33. Dank 2.960 Personenstimmen sitzt er – jawoll wieder im Parlament. Oder Medine Yildiz, Listenplatz 46, holte 1.385 Personenstimmen. Muhamed Tokmak, Platz 27, sprang mit 1.144 persönlichen Stimmen in den gut bezahlten* Job.
Zum Vergleich: In der SPD anerkannte „Größen“ wie Falk Wagner (kurze Zeit als Bausenator im Gespräch) kam auf schwache 800 Personenstimmen. Und der innenpolitische SPD-Lautsprecher Kevin Lenkeit („Prosa in rosa“) zog kümmerliche 410 Personenstimmen auf sich.
Die SPD hat sich in ein Dilemma manöveriert: Sie will von allen erdenklichen Gruppen geliebt, sprich gewählt werden. Wollte die SPD jene Community-Männer und -Frauen aus ihrer SPD-Fraktion fernhalten, müsste ihr Spitzenpersonal über mehr Mumm verfügen. Und zwar bei der Kandidatenwahl in den Ortsvereinen. Dort beginnt nämlich – aus Partei-Manager-Sicht – das Übel. Dort schlagen die Vordenker der Partei ihren jeweiligen Lieblingskandidaten m/w vor. Zuweilen kommen die jedoch nicht „durch“, weil ein Gegenkandidat seine migrantischen Genossen zur entscheidenden Parteiversammlung mitbringt und eben gewinnt.
Würde die Parteiführung offen sagen: Genosse xy, wir freuen uns über dein Engagement. Wir meinen aber, du solltest zunächst noch ein paar Jahre intensiv im Ortsverein oder im Stadtteilbeirat mitarbeiten, wären die Fronten geklärt.
Doch davor stehen die Feigheit und die Sorge, dass die „lieben Genossen“ sich benachteiligt fühlen und austreten könnten. Die SPD leidet ohnehin unter Mitgliederschwund. Von ehemals über 10.000 Bremern m/w sind nur noch 3.720 eingeschriebene Parteimitglieder.
Die Linken kennen ähnliche Probleme. Tim Sültenfuß stand möglicherweise aus gutem Grund auf Listenplatz 22, schaffte aber dank 1.804 Stimmen den Sprung ins Parlament.
Bevor ich’s vergesse: Noch ein paar Sätze zur „Unglücksräbin“ Dr. Henrike Müller. Die Grüne Fraktionschefin zog lediglich 777 Stimmen. Zum Vergleich: Dr. Maike Schaefer holte zehnmal mehr Personenstimmen. Diese Frau Dr. Müller hat die Debatte über eine erneute Wahlrechtsänderung mit zwei Falschbehauptungen garniert. Es sei doch unmöglich, dass (beispielsweise) seit 40 Jahren stets Männer innenpolitische Sprecher aller Bürgerschaftsfraktionen „waren“. Falsch! In der vorigen Legislaturperiode war Birgit Bergmann innenpolitische Sprecherin der FDP. Müllers weitere Äußerung, mangels der weiblichen Innenpolitikerinnen sei das Thema häusliche Gewalt von niemand angefasst worden, brachte mich ins Grübeln Anruf bei Birgit Bergmann: „Das stimmt nicht. Das Thema häusliche Gewalt war so ziemlich in jeder Sitzung in der Innendeputation präsent.“
Tragisch für Bergmann: Sie hätte aufgrund ihres großen Engagements – wie vier Jahre zuvor – vermutlich erneut viele Personenstimmen für die FDP geholt. Doch die Parteiführung setzte bei der Listenaufstellung auf zwei andere Frauen, die dummerweise kurz vor der Wahl einen Rückzieher machten. Folge: Eine reine FDP-Männer-Fraktion.
Fazit: SPD, Grüne und Linke sollte die Finger davon lassen, erneut am Wahlrecht rumzuschrauben, sondern stattdessen bei der Kandidatenaufstellung in den Ortsvereinen mit offenem Visier antreten. Bei der CDU gibt es übrigens keinen Bedarf, das Wahlgesetz zu ändern. Deren paritätisch besetzte Liste wurde nämlich überwiegend von der Wählerschaft anerkannt, sprich per Abstimmung gesegnet – Personenstimmen wirkten anders als mehrfach bei der SPD bloß in einem Fall (Dr. Oguzhan Yazici) wie ein Fahrstuhl.
Insofern ist es auch falsch, wenn Frau Grünen-Müller behauptet, das aktuelle Wahlrecht benachteilige Frauen im Parlament. Das ist übrigens schon deshalb Quatsch, weil Frauen Wählerinnen sind und ergo mit ihren Stimmen auch darüber entscheiden, ob ihre Geschlechtsgenossinnen in den Landtag einziehen, oder eben nicht.
Herzlichst
Ihr Axel Schuller
——————————————
*Ich habe zwei Formulierungen geändert: Nach Hinweisen aus der Leserschaft habe ich die „Futterkrippe“ (für Segnungen der Parlaments-Mitgliedschaft) und „Diäten-gesegnet“ für relativ hohes Einkommen herausgenommen. Mein Ziel ist es, dass über den sachlichen Inhalt des Textes nachgedacht wird – und sich niemand an einzelnen Wörtern festbeißt, die offenbar ungute Gedanken auslösen können. Danke für die Hinweise, Ihr as
——————————————–
P.S.: Ab sofort können Sie die aktuellen Blogstücke kommentieren. Versuchsweise, weil ich herausfinden muss, wie groß der Aufwand sein wird. Bekanntlich betreibe ich den Blog als Ehrenamt.
Aufwand entsteht eventuell dadurch, dass ich Kommentare herausfiltern muss, sobald diese strafrechtliche Grenzen sprengen. Laut Mediengesetzen haftet nämlich nicht nur der Autor (also: bitte mit dem echten Namen kommentieren) eines „Leserbriefes“, sondern auch derjenige, der diesen veröffentlicht. Und das bin ich.
Angenehm kritisch!!
Kann man sagen, daß die Grünen es mit der Wahrheit und der Demokratie nicht so ernst nehmen, wenn es nicht so läuft wie sie gerne möchten?
Hallo Axel,
zu der Sache habe ich eine ganz andere Meinung. Die „Reform“ des Bremer Wahlrechts war schon damals hoch umstritten, eine richtige Bremensie, übrigens von der CDU zu Recht scharf kritisiert und abgelehnt.
Dass die nun – auch zu Recht – findet, dass die Sache z.Zt. der Koalition mehr schadet als ihr selbst und sich nun auf den populistischen Zug des Parteien-Bashings setzt – geschenkt.
Der Ursprung des einmaligen Bremer Wahlrechts – besonders betrieben von Herrn Dr. Güldner – ist eine tief verwurzelte Parteifeindlichkeit, das mag hingehen, man findet genug kritikwürdiges. Es ist aber auch eine Absage an die repräsentative Demokratie. Der grundlegende Gedanke, dass alle (!) Abgeordneten das Volk vertreten sollen und zwar das ganze, wurde sukzessive zerkloppt – leider mit den Grünen als Speerspitze. Oder glaubst Du, dass es den Abgeordneten, die über Personenstimmen in die Bürgerschaft kommen wirklich um das ganze Volk gehen kann?
Was immer Dich treibt, das vom Volk gewählte Parlament als Futterkrippe zu bezeichnen – bei mir löst das ziemlich ungute Assoziationen aus. Komisch nur, dass es immer schwieriger wird, dafür geeignete Menschen zu finden, jedenfalls in Bremen. Aber macht ja nichts, umso mächtiger werden die Interessen, die sich auch gut durchsetzen können, ohne sich den Mühen der „Futterkrippe“ auszusetzen.
Klar, so eine Liste zusammen zu stellen ist schwer und führt zu Enttäuschungen. Der Versuch, Frauen und Männer, Alte und Junge, Gebietsproporz, Menschen mit Migrationshintergrund usw. zu berücksichtigen gelingt nie ohne Blessuren. Auch die Frage, ob so ungefähr SpezialistInnen für Inneres, Finanzen, Soziales etc. auf der Liste sind – ein nie gelingendes Kunstwerk. Wenn man Parteien so gerne abwertet wie Du, kann es natürlich nur schlecht sein. Glaubst Du nicht, dass der Blick darauf, wer was kann von „innen“ manchmal auch gelingen kann? Guck Dir mal die Reden, die Abgeordnetentätigkeit, die Arbeit in Deputationen und Ausschüssen derjenigen an, die durch Personenstimmen an anderen auf der Liste vorbeigezogen sind.
Die Qualität der Arbeit ist also egal, Türken vertreten Türken, Afrikaner Afrikaner und Queere Menschen queere. Der Grundgedanke der Aufklärung, dass es nicht wichtig ist, wer was sagt, sondern was gesagt wird ist reif für die Tonne – wie bitter und wir werden einen hohen Preis dafür zahlen.
Ach so, Henrike: sie ist einfach zu anständig, um für eigene Personenstimmen zu werden, sie hat Wahlkampf für Die Grünen gemacht.
Nix für ungut, aber manchmal ist es schwer auszuhalten, auch und gerade die Sprache. Du warst schon mal besser,
mit freundlichen Grüßen Karoline Linnert
Die FDP scheint ja bei Birgit Bergmann das gemacht zu haben, was sich die Genossen nicht trauen. Nachher entscheidet immer die Partei, wen sie aufstellt.