Dokumentation: Antrag auf „Enquetekommission Bildung“ mit glasklarer Analyse

02.08.2024 4 Von Axel Schuller

Liebe Leserschaft, mal wieder eine Dokumentation. Heute ein umfassender Antrag auf Einsetzung einer Enquetekommission, um Bremens erfolgloses Bildungssystem auf Vordermann zu bringen. Dieser Antrag enthält – aus meiner Sicht – eine glasklare Analyse, woran die Bremer Bildung krankt. Mal schauen, wie die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft darüber abstimmen werden.

ZITAT-Anfang:

„Bildung entscheidet über Lebensschicksale, darüber, ob und wie der Einzelne seine Persönlichkeit entfalten kann. Die in der Schule vermittelten Kulturtechniken sind eine unabdingbare Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Lesen, schreiben und rechnen zu können, ist heute mehr denn je notwendig, um am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. Zahlreiche Statistiken und Studien verdeutlichen die engen Zusammenhänge zwischen dem Bildungsniveau und dem Wohlergehen des Einzelnen. Dies betrifft den materiellen Wohlstand (Einkommen, Vermögen, Rentenansprüche), die gesellschaftliche Teilhabe und nicht zuletzt die Gesundheit. Menschen mit niedrigem Bildungsniveau sind nicht nur häufiger arbeitslos, einkommensarm und vermögenslos; sie werden auch häufiger krank und sterben früher. Besonders prekär ist die Lage von Menschen ohne Schulabschluss. Dieser Benachteiligung zugrunde liegen, über das Fehlen formaler Qualifikationen hinaus, Nachteile in Bezug auf wichtige Kompetenzen und Kulturtechniken. Angesichts der Schlüsselrolle der Bildung für die Lebenschancen ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, junge Menschen durch das Bildungssystem bestmöglich zu fördern.

Bildung ist die Basis unserer Wissens- und Technologiegesellschaft.

Die Wirtschaft ist – im vergleichsweise rohstoffarmen Deutschland – auf eine gut ausgebildete Bevölkerung angewiesen. Nur durch Bildung lässt sich die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer hochtechnisierten Volkswirtschaft in einer globalisierten Welt sichern. Allein mit einer prosperierenden Wirtschaft lässt sich der Sozialstaat auf die Dauer finanzieren. Ein leistungsfähiges Bildungssystem ist unabdingbar, um dem Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes realisieren zu können.

Das öffentliche Schulwesen soll gemäß Art. 27 der Bremischen Landesverfassung sicherstellen, dass jeder „gemäß seiner Begabung das gleiche Recht auf Bildung“ wahrnehmen kann.

Zu seinen Aufgaben gehört es, die Jugend mit den „für den Eintritt ins Berufsleben erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten“ auszurüsten (Art. 26 Absatz 2). Es ist fraglich, ob das Bremer Bildungssystem diesem Anspruch gerecht wird. Spätestens seit dem „PISA-Schock“ (2001/2002) ist das Bremer Schulsystem für seine Leistungsdefizite bekannt. Immer wieder landete Bremen bei Vergleichen unter den deutschen Bundesländern auf dem letzten Platz. Die Schlusslichtposition Bremens zeigt sich schon bei einer formalen Betrachtung nach Bildungsabschlüssen. So hat Bremen im Bundesvergleich den höchsten Anteil von Jugendlichen,

die keinen Schulabschluss erreichen, wie Berechnungen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigen. Demnach erreichte jeder zehnte Schüler im Jahr 2021 keinen Hauptschulabschluss, während es im Bundesdurchschnitt „nur“ „6,2 Prozent waren. Auch in den Stadtstaaten Hamburg (5,9%) und Berlin (6,7%) war der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss niedriger, in Bayern (5,1%) war dieser Anteil um die Hälfte niedriger (Klaus Klemm: Jugendliche ohne Schulabschluss, Gütersloh 2023, Tabelle 2). Besonders beunruhigen muss, dass der Anteil dieser, auf dem Ausbildungsmarkt kaum vermittelbaren, Jugendlichen in Bremen im letzten Jahrzehnt (2011-2021) gestiegen ist.

Ein Schulabschluss ist für fast jede Berufsausbildung erforderlich. Auch der Anteil der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist in Bremen so hoch wie in keinem anderen Bundesland: Im Jahr 2021 hatten 25,6 Prozent der 20-35-Jährigen keine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Bundesdurchschnitt lag dieser Anteil bei 17,9 Prozent, in Hamburg bei 18 Prozent, in Berlin bei 15,7 Prozent und in Bayern bei 12,2% (Ebenda, Tabelle 9). Besonders ungünstig ist in Bremen die Lage ausländischer Jugendlicher, von denen fast ein Viertel keinen Hauptschulabschluss hat. Der bundesweit höchste Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss widerspricht diametral dem gesetzlichen Auftrag der Schulen, „die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder einer Beeinträchtigung in das gesellschaftliche Leben“ zu fördern (Bremisches Schulgesetz § 3 Absatz 4).

Das Bremer Schulwesen verfehlt seinen gesetzlichen Auftrag, „soziale Benachteiligungen“ abzubauen (Bremisches Schulgesetz § 4 Absatz 3), wie schon die rein formale Betrachtung des Qualifikationsniveaus zeigt. Noch viel gravierender ist die Benachteiligung Bremer Schüler, wenn Leistungen und Kompetenzen untersucht werden. Ob und inwiefern formale Bildungsabschlüsse als Indikator für Ausbildungsreife gelten können, ist fraglich. Dies gilt für Deutschland insgesamt, besonders aber für Bremen. Aussagekräftiger als formale Abschlüsse sind Kompetenzwerte, die in standardisierten Tests ermittelt werden.

Die für Deutschland einschlägigen Erhebungen solcher Kompetenzwerte sind die Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). In mehrjährigen Abständen untersucht dieses, inwieweit Neuntklässler die bundesweit geltenden Standards der Kultusministerkonferenz (KMK) erreichen. Dem IQB-Bildungstrend 2022 zufolge scheitert in Bremen nahezu ein Viertel (24,4%) der Schülerschaft im Lesen an den Mindeststandards für einen Hauptschulabschluss. Nahezu die Hälfte (46,8%) der Schüler verfehlt den Mindeststandard für einen mittleren Schulabschluss. Im Vergleich der deutschen Bundesländer sind das Negativrekorde, die noch über den Werten der anderen Stadtstaaten Berlin (22,3% und 41%) und Hamburg (16,5% bzw. 33,8%) liegen. Die niedrigsten Anteile im Bundesländervergleich erreicht Sachsen (8,4% bzw. 23,1%); der Bundesdurchschnitt liegt bei 15,2% bzw. 32,5%.

Für die Kompetenzbereiche Zuhören und Orthografie ergibt sich im Fach Deutsch ein sehr ähnliches Bild: Bremen hat durchgängig die höchsten Anteile von Schülern, die die Mindeststandards verfehlen.

Auch in anderen Bundesländern liegen diese Anteile zu hoch, scheitern viel zu viele Schüler an Aufgaben, die elementare Kompetenzen verlangen. Überall ist der Anteil dieser Problemgruppe im Vergleich zur ersten IQB-Studie gestiegen. In Bremen erfolgte dieser Anstieg von einem ohnehin schon schlechten Ausgangsniveau. Der Negativtrend ist daher besonders besorgniserregend ist. (Quelle: Petra Stanat et. al: IQB-Bildungstrend 2022, Münster 2023, S. 66 ff.).

Die Schlusslichtposition Bremens zeigt sich in Bildungstests immer wieder. Bremen hat den höchsten Anteil von Schülern, die an elementaren Aufgaben scheitern. Dies gilt für alle Fächer, die von den IQB-Bildungsstudien untersucht werden. Auch in Mathematik lag 2015 der Anteil der Schüler, die den Mindeststandard für den Hauptschulabschluss verfehlten, mit 12,4% weit über dem Bundesdurchschnitt von 5,6% und so hoch wie in keinem anderen Bundesland (Klaus Klemm: Jugendliche ohne Schulabschluss, Gütersloh 2023, Tabelle 3). Das Bremer Schulwesen verfehlt eklatant seinen Auftrag, benachteiligte junge Menschen zu fördern und elementare Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln.

Dass das Bremer Bildungssystem an seinem Ziel scheitert, „soziale Benachteiligungen“ abzubauen, kann nicht auf einen Mangel an „Inklusion“ bzw. „gemeinsamer“ Unterrichtung von Kindern unterschiedlicher Herkunft, Begabung und Leistungsfähigkeit zurückgeführt werden. So haben in Bremen weniger als 5% der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss eine Förderschule besucht, mehr als 90% eine Gesamtschule (Quelle: Ebenda, Tabelle A5).

Zugleich gehört Bremen zu den Bundesländern mit einem besonders hohen Anteil Integrierter Gesamtschulen. Seit dem Schuljahr 2009/2010 wurden in Bremen Schulzentren mit getrennten Bildungsgängen sukzessive zu sogenannten Oberschulen umgewandelt. Das herkömmliche Schulsystem wurde abgelöst durch ein „Zwei-Säulen-Modell“ von Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen. Im Zuge dieser Reform ist die Gymnasialquote um mehr als 10 Prozent gesunken, während der Anteil der Neuntklässler, die Oberschulen besuchen, drastisch (+49%) anstieg, so dass heute mehr als drei Viertel von ihnen solche Gesamtschulen besuchen (Quelle: Ebenda, S. 40 ff). Mit dieser Egalisierung des Schulsystems scheinen sich soziale Bildungsnachteile eher verstärkt zu haben.

Anderen Bundesländern, die auf ein stärker gegliedertes Schulsystem setzen, gelingt es anscheinend besser, benachteiligten Jugendlichen elementare Bildung zu vermitteln. Das Scheitern der Bremer Schulen in der Förderung benachteiligter Kinder ist denklogisch nicht durch zu wenig „gemeinsames Lernen“, sondern möglicherweise eher durch zu viel Nivellierung unterschiedlicher Leistungsniveaus, zu wenig Differenzierung in den Schul- und Unterrichtsformen und im Ergebnis zu wenig begabungsgerechtem Unterricht zu erklären.

Das Leistungsniveau der Bremer Schulen ist in seiner gesamten Breite so schwach, dass Bremen auch bei der Betrachtung der Durchschnittswerte immer wieder Schlusslicht ist. Im IQB-Bildungstrend 2022 war Bremen im Lesen mit durchschnittlich 436 Punkten das Schlusslicht.

Die Ergebnisse lagen weit unter dem Bundesdurchschnitt (475 Punkte) und waren auch schwächer als in den anderen Stadtstaaten Hamburg (472 Punkte) und Berlin (451). Den „Regelstandard“ im Lesen erreichten in Bremen nur 56% der Gymnasiasten, noch weniger als in Berlin (61,5%) und in Hamburg (69,7%). Im Bundesdurchschnitt waren es mehr als 72% und in Bayern mehr als 84%. Den „Optimalstandard“ erreichten in Bremen nur 5% der Gymnasiasten, in Berlin waren es 6,3, in Hamburg 6,7 und im Bundesdurchschnitt 7,9%. In Bayern lag dieser Anteil mit 12,5% mehr als doppelt so hoch (Ebenda, S. 67-68). In den Kompetenzbereichen Zuhören und Orthografie schnitt Bremen sogar noch schlechter ab als im Lesen.

Zur Einordnung der IQB-Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass das Erreichen des sogenannten Optimalstandards keine Höchstleistungen erfordert. Es wird beim Lesen nur verlangt, normale Texte zu verstehen und Interpretationsansätze zu entwickeln, wie man es von Gymnasiasten der höheren Jahrgangsstufen erwarten sollte. Es geht um grundlegende Fähigkeiten für ein Studium, an denen es viel zu vielen Gymnasiasten in Bremen mangelt.

Noch besorgniserregender sind die hohen Anteile derjenigen, die Mindeststandards verfehlen.

Denn auf der zweitniedrigsten Kompetenzstufe geht es um das Verknüpfen „benachbarter Informationen“ in Texten und darum, „für das Textverständnis zentrale Inhalte sinngemäß“ wiederzugeben. Für das Erreichen des Regelstandards genügt es schon, wenn „mehrere aufeinanderfolgende Einzelinformationen aus strukturell komplexeren, längeren Texten“ miteinander „verknüpft“ werden. Bei Schülern, die daran scheitern, muss davon ausgegangen werden, dass sie kaum in der Lage sind, technische Gebrauchsanleitungen zu verstehen.

Die schwachen IQB-Ergebnisse Bremer Schüler zeigen, dass es den Schulen in Bremen nicht gelingt, elementare Kompetenzen zu vermitteln, die das Leben in unserer Technologie- und Wissensgesellschaft erfordert. Die Ursachen für die viel zu schwachen Kompetenzwerte der Bremer Schüler sind komplex und nicht monokausal dem Bildungswesen anzulasten. Der Wandel der Bevölkerungsstrukturen ist in jedem Fall zu berücksichtigen. Ein Grund für die Verschlechterung der Kompetenzwerte der Schüler in ganz Deutschland ist die Zuwanderung, wie der IQB-Bildungstrend 2022 zeigt. Zwar hat sich auch das Kompetenzniveau von Schülern ohne Migrationshintergrund verschlechtert. Weit überdurchschnittlich verschlechtert haben sich die Kompetenzen von Schülern der ersten Zuwanderergeneration, so dass die „zuwanderungsbezogenen Disparitäten“ gewachsen sind (Ebenda, S. 305 ff.). Bremen hatte 2022 mit 57,1% von allen Bundesländern den höchsten Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund, der weit über dem Bundesdurchschnitt (37,7%) lag. Wesentlich niedrigere Anteile von Schülern mit Migrationshintergrund sind in den neuen Bundesländern zu finden, in Sachsen etwa lag dieser Anteil nur bei 13,3% (Ebenda, S. 303). Die Bevölkerungszusammensetzung kann die Kompetenznachteile Bremer Schüler möglicherweise teilweise, aber wohl kaum vollständig erklären.

Auch die veränderten Lebenswelten von Kindern und Lebensweisen der Familien können das Bildungsniveau negativ beeinflussen. Immer wieder wird der deutschlandweite Kompetenzverlust mit familiären Erziehungsdefiziten in Verbindung gebracht. So bemängelte der langjährige Schulsenator Hamburgs, Ties Rabe, dass Eltern mit ihren Kindern zu wenig spielen, lesen und lernen. In der Folge würden wichtige Alltagskompetenzen abnehmen, wie er an Beispielen erläuterte:

„Es wird zum Beispiel kaum noch ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ gespielt, dabei lernen Kinder beim Würfeln spielerisch zählen. … Es geschehen immer weniger Dinge gemeinsam, die früher in den Familien gemacht wurden – wie messen und wiegen. Zum Beispiel, wenn man zusammen einen Kuchen backt und das Mehl und den Zucker abwiegt. Auch der klassische Kaufmannsladen kann beim Lernen helfen. … In Deutschland haben knapp 40 Prozent aller Familien mit Kindern weniger als 25 Bücher im Regal“ (Quelle: Experte mahnt: Schüler schlecht, weil sie zu wenig backen und spielen | Politik | BILD.de).

Tatsächlich verlieren Familienaktivitäten wie gemeinsames Kochen, Backen, Spielen und Lesen an Selbstverständlichkeit. Sie stehen in einer immer schärferen Konkurrenz mit anderen Freizeitaktivitäten, insbesondere den elektronischen Medien. Zudem verändert sich der Alltag von Kindern und Familien. Immer häufiger werden Kinder ganztägig in Institutionen betreut.

Es wird gefordert, dass beide Elternteile (in Vollzeit) erwerbstätig sind. Dass Mütter aufgrund der Kindererziehung nicht oder „nur“ in Teilzeit erwerbstätig sind, ist arbeitsmarkt- und gleichstellungspolitisch unerwünscht. Es wird der Eindruck vermittelt, dass die Betreuung in Institutionen für Kinder vorteilhaft sei, weil sie dort von „hochwertigen Bildungsangeboten“ profitierten (Quelle: BMFSFJ – Gute Kinderbetreuung).

So wird der Eindruck vermittelt, dass familiäre Aktivitäten entbehrlich oder jedenfalls weniger wichtig seien als die in Kindertagestätten und Schulen verbrachte Zeit. Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen und beim Lernen (Hausaufgaben) unterstützen, gelten als antiquiert.

Die politisch-mediale Kritik an der ungleichen „Vererbung“ von Bildungschancen signalisiert Eltern, dass private Anstrengungen für die Bildung ihrer Kinder unerwünscht sind. In Bremen ist dieses Meinungsklima besonders prägend.

Exemplarisch zeigt dies die Ablehnung von Vorschulklassen mit dem Argument, dass sich die „Bildungsschere“ weiter öffnen könnte, wenn diese Klassen überwiegend von Kindern „bildungsnaher Eltern“ besucht würden (Quelle: CDU fordert Vorschulen für Bremen: Wer lernt wann und wo? – taz.de). Typisch für diese zugleich leistungs- und familienfeindliche Haltung ist die Kritik an Hausaufgaben.

Die Kritik an der „Bildungsungleichheit“ impliziert, dass familiäre Erziehung unerwünscht ist und durch öffentliche Erziehung in Institutionen ersetzt werden soll. Unter dieser Maßgabe der

Herstellung von Gleichheit durch öffentliche Erziehung können Eltern denklogisch nicht für mangelnde Erziehungs- und Lernaktivtäten mit ihren Kindern kritisiert werden. Die Problemdiagnose des Ex-Bildungssenators Rabe ist insofern paradox. Zugleich ist sie unbestreitbar realitätsnah und verdeutlicht anschaulich, wie gefährlich das Schwinden familiärer Erziehung für die Bildung von Kindern ist. Wenn Eltern ihre Kinder nicht erziehen, hat es die Schule schwer, elementare Kompetenzen zu vermitteln, ist letztlich kaum noch Bildung möglich. Wenn Eltern ihr Erziehungsrecht wahrnehmen und der Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder nachkommen (Art. 6 Absatz 2 GG) sind Ungleichheiten unvermeidbar, weil sie ihre Kinder unterschiedlich prägen.

Wenn sich Eltern für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder engagieren, bedeutet dies unausweichlich „ungleiche“ Chancen und vor allem „ungleiche“ Ergebnisse. Diese unvermeidbare

„Bildungsungleichheit“ entspricht der Vielfalt der Begabungen von Menschen in einem Gemeinwesen, die jedem das „Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ (Art. 2 Absatz 1 GG) gewährt.

Jungen Menschen die Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu ermöglichen, ist der Auftrag der Bremischen Landesverfassung (Art. 25 Absatz 3). Die Schule hat, im Blick auf diese Zielsetzung, den Auftrag, „Basiskompetenzen und Orientierungswissen sowie Problemlösefähigkeiten zu vermitteln, die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft von Schülerinnen und Schülern zu fördern und zu fordern und sie zu überlegtem persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Handeln zu befähigen“ (Bremisches Schulgesetz Teil 2 § 5 Absatz 3).

Gemessen an diesem gesetzlichen Auftrag ist ein Versagen der Bremer Bildungspolitik zu konstatieren. Denn nach den Erkenntnissen der empirischen Bildungsforschung (v. a. des IQB) ist das Kompetenzniveau vieler Bremer Schüler derart schwach, dass Basiskompetenzen zur Bewältigung persönlicher, beruflicher und öffentlicher Aufgaben fehlen. Auch sind Bremer Schüler gegenüber Schülern aus anderen Bundesländern in der Kompetenzentwicklung so weit im Rückstand, dass sie auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Unter dem schwachen Bildungsniveau leiden besonders die schwächsten Jugendlichen. In Anbetracht dessen muss die Bremer Bildungspolitik mit ihrer Fokussierung auf die Herstellung von möglichst viel „Gleichheit“ auf den Prüfstand gestellt werden. Bessere Lebens- und Teilhabechancen für alle Bremer Kinder lassen sich nur erreichen, wenn das Leistungsniveau Bremer Schulen in der ganzen Breite deutlich gesteigert wird.

In den Fokus der Bremer Bildungspolitik muss das Streben nach einem besseren Leistungs- und Kompetenzniveau rücken. Diese Bildungswende muss durch eine breite und zugleich fachlich vertiefte Debatte vorbereitet werden. Zu diesem Zweck ist eine Enquetekommission einzusetzen.

Beschlussempfehlung:

Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:

1. Die Bürgerschaft (Landtag) beschließt gemäß § 72 Geschäftsordnung die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft durch Bildung“ (EK Bildung).

2. Im Rahmen der Enquetekommission sollen folgende Fragekomplexe untersucht und Wege zur Lösung der Probleme identifiziert werden:

a) Was sind die Gründe für die schwachen Kompetenzwerte Bremer Schüler?

• Welche Rolle spielen sozialstrukturelle Faktoren für die schwachen Ergebnisse Bremer Schüler im Vergleich zu anderen Bundesländern (insbesondere in den IQB- Studien)?

• Welche Rolle spielt die Migration für die negative Entwicklung der Kompetenzwerte Bremer Schüler? Gibt es weitere sozialstrukturelle Faktoren, die zu der ungünstigen Entwicklung beitragen?

• In welcher Weise wird „Bildungsferne“ bzw. „Bildungsaffinität“ in Bremen über die Generationen vererbt? Gibt es hier Unterschiede zu anderen Bundesländern, z. B. durch einen geringeren Anteil von „Bildungsaufstiegen“ über die Generationen?

Falls ja, welche Rolle spielen wirtschaftsstrukturelle und kulturelle Faktoren für die Bremer Bildungsergebnisse?

• Wie entwickeln sich die Leistungsnachteile Bremer Schüler im Verlauf ihrer Bildungskarriere? Welchen Beitrag kann die Untersuchung von Kindertagestätten, Grundschulen und weiterführenden Schulen leisten, den Rückstand zu anderen

Bundesländern zu erklären?

• Gibt es Spezifika in der Grundschulpädagogik in Bremen, die Leistungsnachteile Bremer Schüler erklären können?

• Gibt es Spezifika in der Methodik und Didaktik der Sekundarstufen I und II, die Leistungsnachteile Bremer Schüler erklären können?

• Welches Niveau erreichen die Leistungen und Kompetenzen der Schüler in den einzelnen Bremer Schulen? Wie hat sich das Kompetenzniveau in den IQB-Tests seit 2009 differenziert nach Oberschulen und Gymnasien und den Anforderungsniveaus in den Oberschulen entwickelt?

b) Mit welchen Maßnahmen und mit welchen Instrumenten lassen sich die schwachen Kompetenzwerte Bremer Schüler verbessern?

• Welche Basiskompetenzen müssen Kinder mitbringen, um schulfähig zu sein?

• Inwieweit gelingt es Bremer Kindertagesstätten, Kindern diese Basiskompetenzen zu vermitteln? Was zeigen die PRIMO-Tests hinsichtlich der Sprachfähigkeit? Welche Verbesserungen werden durch die Sprachförderungen erreicht?

• Welchen Beitrag könnten „Vorschulklassen“ zur Schulfähigkeit Bremer Kinder leisten? Welchen Beitrag könnten verpflichtende Sprachtests vor der Einschulung in Bezug auf die Schulfähigkeit leisten?

• Welchen Beitrag können spezielle, ganz auf den Spracherwerb ausgerichtete, Klassen zur Verbesserung der Sprachkenntnisse sprachlich benachteiligter Schüler leisten? Wie haben sich die deutschen Sprachkenntnisse von Kindern aus „Willkommensklassen“ (Willkommensklassen – Die Senatorin für Kinder und Bildung (bremen.de) im Vergleich zu anderen Kindern entwickelt? Welche Lehren können daraus gezogen werden, etwa im Blick auf die Einrichtung von „Alphabetisierungs-Klassen“ bzw. „Sprachförderklassen“ nach hamburgischem respektive niedersächsischem Vorbild?

• Wie kann die Ausbildung von Grundschullehrern noch stärker auf die Vermittlung von Basiskompetenzen ausgerichtet werden? Was lässt sich diesbezüglich von anderen Bundesländern lernen?

• Könnte eine veränderte Notengebung und Versetzungspraxis zur Verbesserung des Leistungsniveaus leisten?

• Welche Anpassungen der Stundentafeln (aller Schulformen) wären sinnvoll, um die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik zu verbessern?

• Wie kann eine neue Schulkultur in Bremen gefördert werden, die das Streben nach Leistung honoriert?

• Welche Unterschiede gibt es in der Ausbildung von Lehrern für die Sekundarstufen I und II zwischen Bremen und anderen Bundesländern? Was kann Bremen hin-sichtlich der Qualifikation und Fortbildung von Lehrern von anderen Bundesländern

lernen?

• Welches Profil müssen die gymnasialen Oberstufen entwickeln, um die Studierfähigkeit Bremer Abiturienten zu verbessern?

c) Wie lässt sich die Ausbildungsfähigkeit Bremer Schüler verbessern?

• Wie lässt sich sicherstellen, dass Schüler am Ende der Sekundarstufe I die Mindestanforderungen nach den IQB-Tests erfüllen?

• Welche weiteren (fachlichen, sozialen, praktischen) Kompetenzen müssen Schüler am Ende der Sekundarstufe I haben, um eine Ausbildung absolvieren bzw. ihren Bildungsweg erfolgreich fortsetzen zu können?

• Welche Bedeutung haben außerschulische Aktivitäten (in Familien, Vereinen etc.) für die Kompetenzentwicklung der Kinder?

• Welchen Anteil haben „Nebenfächer“ (v. a. Sport, Kunst, Musik) für die Kompetenzentwicklung der Schüler?

• Wie kann eine Schulkultur gestaltet werden, die das Interesse an beruflicher Bildung weckt und auf diese vorbereitet?

• Wie können praktisch orientierte Inhalte wie Technik, Hauswirtschaft, Arbeitslehre oder angewandte Informatik in den weiterführenden Schulen gestärkt werden?

• Welchen Nutzen könnte eine weitere, berufspraktisch ausgerichtete Schulform (z. B. ähnlich der „Werkrealschule“ in Baden-Württemberg) haben?

• Wodurch können schulmüde Jugendliche zu einem Abschluss gebracht und in den Ausbildungsmarkt vermittelt werden?

• Wie kann die Ausbildung von Lehrern, Erziehern und Schulsozialarbeitern im Blick auf diese Zielsetzung verbessert werden?

3. Die Enquete-Kommission wird aus 18 Mitgliedern gebildet: Neun Abgeordneten (drei Sitze für die SPD-Fraktion, zwei Sitze für die CDU-Fraktion sowie jeweils einen Sitz für Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, die Fraktion BÜNDNIS DEUTSCHLAND und die

FDP-Fraktion) und neun Sachverständigen (drei Sitze für die SPD-Fraktion, zwei Sitze für die CDU-Fraktion sowie jeweils einen Sitz für Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, die Fraktion BÜNDNIS DEUTSCHLAND und die FDP-Fraktion). Den Vorsitz der Enquete-Kommission stellt die SPD-Fraktion als stärkste Regierungsfraktion, den stellvertretenden Vorsitz die CDU-Fraktion als stärkste Oppositionsfraktion. Bremerhaven

ist bei der Besetzung angemessen zu berücksichtigen. Die Enquete-Kommission gibt sich eine Verfahrensordnung. Die Sitzungen der Kommission sind grundsätzlich öffentlich durchzuführen.

4. Die Enquetekommission kann Forschungsaufträge erteilen, Betroffene und Experten anhören und Studienfahrten bzw. Ortsbesichtigungen und Projektforschungen durchführen. Den Fraktionen werden die Kosten für die Sachverständigen sowie die Kosten in halber Höhe für eine personelle Assistenz erstattet. Dafür sind die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen im Haushalt zu schaffen.

5. Die Enquete-Kommission wird gebeten, der Bürgerschaft (Landtag) bis zum 31. Januar 2025 einen schriftlichen Zwischenbericht, der über den Fortgang der Beratungen infor-

miert, und bis zum 30. Juni 2025 einen schriftlichen Abschlussbericht zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen. Die Frist für den Abschlussbericht kann, falls es die Beratung und Abarbeitung der Arbeitsaufträge durch die Enquete-Kommission erfordert, verlängert werden, jedoch höchstens bis zum 30. September 2025.

6. Der Enquete-Kommission wird eine Assistenz im Haus der Bremischen Bürgerschaft zur Verfügung gestellt, die im Einvernehmen mit den Fraktionen besetzt wird.“

ZITAT-Ende

Liebe Leserschaft, jetzt bin ich noch eine Info schuldig. Was meinen Sie, wer diesen Antrag so glasklar und sachlich formuliert hat? Die CDU, die FDP – nein, es sind Holger Fricke und Jan Timke von der Fraktion BD, Bündnis Deutschland. Ich habe diese Info bewusst bis zum Schluss aufbewahrt, damit hoffentlich möglichst viele Leserinnen und Leser den Text vorurteilsfrei lesen. 🙂

Herzliche Grüße,

Ihr Axel Schuller