Dokumentation: Ex-SPD-Chef Gabriel erinnert im Dom an alte sozialdemokratische Werte
Liebe Leserschaft, aktuell gibt es viele Menschen – im Osten des Landes sogar sehr viele – die sich fragen: Wofür steht die deutsche Sozialdemokratie? Sigmar Gabriel, Ex-SPD-Vorsitzender (2009 bis 2017), hat in seiner Rede während der Trauerfeier für Willi Lemke mehrere Punkte angesprochen, die an die Werte und Überzeugungen von „alten“ Sozialdemokraten, wie Willi Lemke einer war, erinnert haben. Insbesondere, dass der Sozialstaat die Menschen in die Lage versetzen soll, ihr Leben selbst zu gestalten. Dazu gehörten aber auch Leistungswille und Leistungsbereitschaft der Betreffenden. Ich dokumentiere Gabriels Rede in Auszügen.
Zitate aus Sigmar Gabriels Trauerrede:
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„Die Anrede Genosse mag in einer Trauerfeier heutzutage eher selten gewählt werden, aber ich bin ziemlich sicher, dass Willi schon Wert darauf gelegt hätte, dass er dieser Gemeinschaft von Sozialdemokraten angehört hat. Denn auch wenn er über die Grenzen Bremens und international vor allem als großartiger Fußballmanager des Sports bekannt war, so repräsentierte er mit jeder Faser seines Herzens, das, was einstmals die stolze Anrede Genosse repräsentieren sollte. Genosse oder Genossin, das war für ihn, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die engagiert, aufrichtig kämpferisch und streitbar für ein anderes, ein besseres Leben aller Menschen eintritt. Die einander – auf Augenhöhe, mit Respekt und freundschaftlich – gegenüber treten. Und bei denen Herkunft, Funktionen oder Ämter nur eine äußerliche Bedeutung, aber keinen Wert an sich haben.
Willis Leben, Denken und Handeln waren bestimmt von dem, was man den sozialdemokratischen Kern einer Parteimitgliedschaft nennen kann. Die zentrale Idee der Sozialdemokratie war und ist immer Freiheit. Freiheit eben nicht nur von Not und Unterdrückung, sondern vor allem Freiheit zu einem selbstbestimmten und gelungenen Leben. Jedem Menschen – unabhängig vom Einkommen der Eltern, von Geschlecht, Religion, Hautfarbe oder Herkunft – ein gelungenes Leben zu ermöglichen.
Das war für Willi Lemke die zentrale Aufgabe – einer auf gegenseitiger Verantwortung, Achtung und Solidarität aufbauenden Gesellschaft.
Ein gelungenes Leben muss jeder selbst führen und nichts, auch kein Sozialstaat, ersetzt die eigene Anstrengung und Leistung dafür. Aber Bedingungen dafür zu schaffen, dass jedes Leben gelingen kann und Herkunft eben kein Schicksal ist, genau das war für Willi Aufgabe von Politik. Politik, und speziell sozialdemokratische Politik, sollte dafür sorgen, dass Menschen stark gemacht werden, damit sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen können und es dann auch tun.
Das war der innere Kompass für das politische Engagement auch und gerade in seiner Zeit als Bildungssenator hier in Bremen.
Leistungswille und Leistungsbereitschaft waren für ihn untrennbar mit der Bereitschaft zur Solidarität und Hilfe verbunden. Das eine gibt es nur mit dem anderen und umgekehrt. Freiheit und Verantwortung, Leistungsbild und Solidarität sah er als zwei Seiten der gleichen Medaille. Bedingungen schaffen, damit jedes Leben gelingen kann, blieb für Willi Lemke bis zu seinem Lebensende das große Leuchtfeuer seines politischen Engagements.
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Seinen Appell an die Bremer Schulen und Eltern, dass den Schülerinnen und Schülern doch bitte nicht nur Mathe und Englisch gelehrt werden sollen, sondern auch Achtsamkeit, Respekt, Verlässlichkeit und Höflichkeit im Umgang mit anderen Menschen, auch dass das zum Erziehungsauftrag gehöre, hat damals nicht jedem gefallen.
Was gelegentlich verächtlich als Sekundärtugenden oder altbacken bezeichnet wurde, war für Willi die Idee einer freundlichen Gesellschaft, in der Menschen einander zeigen, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit und allen Meinungsverschiedenheiten doch den gegenseitigen Respekt voreinander nicht verlieren.
In unserer heutigen aufgekratzten und manchmal ruppigen Gesellschaft kann man wohl sagen, dass wir etwas mehr von diesem Willi Lemke gebrauchen können.
Ein eigenen Kopf und zur Not einen ziemlichen Dickkopf hatte er natürlich auch. Seine Eltern stammten aus Pommern. Und so kann man sagen, dass es sich bei Willi und eine ziemlich einmalige Mischung aus Bremer Weltoffenheit und Pommerndickschädel gehandelt haben muss.
Ich hab Willi Anfang der Achtzigerjahre kennengelernt.
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Seitdem haben wir uns nicht mehr aus den Augen verloren und schon gar nicht aus dem Sinn. Wo immer ich später als Vorsitzender SPD Rat und Hilfe brauchte. Willi war immer da und bereit zu tun, was er tun konnte. Wohl auch, weil er aus eigener Erfahrung selbst wusste, wie wichtig persönliche Nähe und Freundschaft in dieser gelegentlich etwas ruppigen Partei gerade dann nötig sind, wenn Niederlagen drohen oder wenn die jakobinischen Gene der SPD mal wieder dabei sind durchzudrehen.
Willi hat sich nie dem Zeitgeist anbiedert, seine Geradlinigkeit hat ihm natürlich auch Ärger eingebracht. (…)
Die deutsche Sozialdemokratie kann stolz darauf sein, einen wir ihn in ihren Reihen gehabt zu haben. Er war ein echter Menschen-Fischer. Ein großer Netzwerker und Organisator. Legendär seine Initiative „Bürger für Koschnick“. Auch als Landesgeschäftsführer der SPD hat er nie vergessen, dass die Sozialdemokratie immer nur dann Erfolg haben wird, wenn sie neben der klassisch organisierten Arbeitnehmerschaft auch das liberale Bürgertum und Intellektuelle erreicht. (…)
Für ihn galt Gustav Heinemanns Leitspruch: Politiker sind Gewählte und keine Erwählten.
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Ich wurde mal Zeuge, wie eine Bremer Bürgerin – ich glaube hier auf dem Marktplatz – sagte: Herr Lemke, Sie sind ja gar kein Politiker. Sie sind einfach nur ein Mensch. Darin enthalten war ein Lob für Willi und zugleich ein Fingerzeig auf das, was offenbar aus Sicht dieser Bürgerin, und vielleicht einem wachsenden Teil unserer Bevölkerung, in der Wahrnehmung auf Andere im politischen Betrieb.
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Bis zum Ende seines Lebens hat ihn die Frage nach dem Frieden nicht losgelassen. Auch bei dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wollte er sich nicht mit Waffenlieferungen zufrieden geben, sondern forderte, wo immer es ging, diplomatische Anstrengungen ein, um dieses unsinnige Morden zu beenden, das nur ungefähr zwei Flugstunden von hier täglich stattfindet.
Über kein anderes Thema haben wir in den vergangenen Monaten so viel gesprochen: Über mögliche Wege, die die Sicherheit der Ukrainer einerseits gewährleisten, aber auch Russland wieder in eine europäische Sicherheitsarchitektur einbinden. Er war geradezu entsetzt darüber, wie sehr die öffentliche Debatte durch das Militärische dominiert wird. Gerade von seiner Partei, der SPD, forderte er eine offene und kritische Diskussion darüber ein, was neben diese militärische Unterstützung der Ukraine hinzutreten muss. Um dem Frieden wieder eine Chance zu geben.
Willi ist der Kosename für den eigentlichen Vornamen Wilfried, der den Frieden will. Kein Name konnte passender sein für Willi Lemke, von dem wir heute Abschied nehmen müssen.
Ich bin mir sicher, dass auch für uns Menschen etwas gilt, was wir im Physik-Unterricht gelernt haben. Nämlich der Energie-Erhaltungssatz: keine Energie geht verloren, sie ändert nur ihre Gestalt.
So ist es auch mit Willi Lemkes Lebensenergie. Sie geht nicht verloren, sondern ändert jetzt ihre Gestalt. Sie wird lebendig bleiben in Köpfen und Herzen. Da bin ich gewiss. Aber auch spürbar sein an all den vielen Orten, die er in seinem reichhaltigen Leben berührt, verändert oder gestaltet hat.
Albert Schweitzer hat mal gesagt, dass das einzig Wichtige im Leben die Spuren sind, die wir hinterlassen, wenn wir ungefragt Abschied nehmen müssen. Wir müssen ungefragt Abschied nehmen, alter Freund, aber Spuren hast du wahrlich hinterlassen.“
Zitat Ende.
Liebe Leserschaft, ich könnte mir vorstellen, dass einige dieser Gedanken Sie an „Früher“ erinnert haben könnten…
Herzlichst
Ihr Axel Schuller
Tja lieber Axel Schuller, es gibt sie noch die echten Sozialdemokraten. Wir arbeiten dran, dass es wieder mehr werden.
Lieber Herr Schuller,
es ist einfach schäbig, zwei Tage nach der Trauerfeier Sigmar Gabriels Worte für eigene politische Ziele zu nutzen.
Lieber Herr Kahmann, welche politischen Ziele meinen Sie? Ich versuche, Geschehnisse in der Stadt einzuordnen, und das aus einem meist anderen Blickwinkel als Bremer Medien. Ja. Aber: „politische Ziele“…?
Darauf muss ich ja antworten.
Lieber Herr Schuller, ich nehme Ihr Engagement schon oft sehr zielgerichtet wahr: Gegen die Bremer Tageszeitung, die Bremer Politik und jüngst auch Gewerkschaften. O.K! Das ist Ihr Ding. Nicht ganz neu, und vielleicht auch nicht immer unbegründet. Aber zwei Tage nach einer sehr würdigen Trauerfeierlichkeit die Trauerrede von Sigmar Gabriel zu nutzen, um „alte Sozialdemokraten“ gegen jüngere auszuspielen, verletzt zumindest meinen demokratischen Ethos.
Nach meiner Einschätzung geht es nicht um „jüngere“ oder „ältere“ Sozialdemokraten. Es geht um die Wurzeln der Sozialdemokratie und um deren Vergesslichkeit oder auch um deren missbräuchliche Interpretation. Das hilft Herrn Kahmann evtl. bei seiner Einordnung.
Vielleich wäre es hilfreich, wenn wir mal die politischen Anteile zugunsten der menschlichen Werte von Willi Lemke auskoppeln. So habe ich Sigmar Gabriel letztendlich auch verstanden! Und menschlich darf man es wohl auch nennen, wenn zu diesem traurigen Anlass an einen großartigen Menschen mit eigenen politischen Grundsätzen erinnert wird.
Lieber Axel Schuller, ich habe die Trauerrede von Sigmar Gabriel gehört.
Jetzt beim Lesen wird mir noch klarer, dass die Worte von Sigmar Gabriel treffend waren und vieles davon sich abbildete, was Willi Lemke in seinem Wirken versuchte zu erreichen und erreicht hat.
Bodenständigkeit, nah bei den Menschen und auch unbequeme Dialoge zu führen.
Lieber Herr Kahmann,
Die Rede von Sigmar Gabriel war nicht nur eine Trauerrede. Sie war hochpolitisch und deutliche Mahnung an die eigene Partei, mit Willi Lemke als Kronzeugen. Es ist nicht nur das Recht, es ist die Pflicht eines guten Journalisten, das zu kommentieren. Schäbig- um Ihren Begriff zu verwenden- ist das nicht.
Lieber Herr Middendorf,
es geht mir garnicht um die Rede von Sigmar Gabriel, die mich als Gewerkschafter und Sozialdemokrat politisch durchaus angesprochen hat. Was mich gewurmt hat (um es heute milder zu formulieren), war der in Blog-Überschrift und Vorwort spürbare Fingerzeig an die heute politisch aktive Sozialdemokratie: Seht, so gut war die SPD früher! Das kann man journalistisch so machen, Pflicht ist es wohl nicht, und vielleicht hat eine Trauerrede auch Anspruch darauf, nicht sofort interessenorientiert in die Tagespolitik hineininterpretiert zu werden.
Leider sind die Sozialdemokraten, die die alte Entspannungspolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt vertreten (also nicht nur immer mehr Waffen für die Ukraine, sondern auch diplomatische Bemühungen), eine aussterbende Spezies.