Dokumentation: Bremer Richterin über Italien
Liebe Leserinnen und Leser, nachfolgend die Dokumentation zur Veranschaulichung, mit welcher Akribie eine Bremer Verwaltungsrichterin über eine Klage gegen die Ausweisungsanordnung des Bundesinnenministeriums durch zwei Palästinenser entschieden hat. Die unausgesprochene Logik des Urteils: Flüchtling, beantrage Asyl in Italien, mache dich anschließend auf den Weg nach Deutschland – und klage dann erfolgreich gegen deine Abschiebung durch das Bundesinnenministerium nach Italien. Dort musst du nicht hin, sondern darfst in Germanien bleiben.
Die Bremer Einzelrichterin legt für diese Denke den Grundstein. Sie teilte dem Bundesamt für Migration via Urteil nämlich mit, eine Abschiebung nach Italien komme nicht in Frage, weil das Land niemanden mehr aufnehmen wolle, der bereits zuvor in Italien um Asyl ersucht hatte. Punkt, Ende, Aus.
Hier nun das VG-Urteil:
“Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen
6 V 2550/23
Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
– Antragsteller
Prozessbevollmächtigte:
,
g e g e n
die Bundesrepublik Deutschland, vertr. d. d. Bundesministerin des Innern und Heimat,
diese vertreten durch den Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge,
Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg,
– Antragsgegnerin –2
hat das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen – 6. Kammer – durch die
Richterin am Verwaltungsgericht Xyz als Einzelrichterin am 13. Dezember 2023
beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller (6 K
2549/23) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.10.2023 wird
angeordnet.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die
Antragsgegnerin.
Der Gegenstandswert wird zum Zwecke der Kostenberechnung auf
4.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller wenden sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen ihre
Abschiebungsanordnung nach Italien.
Die Antragsteller mit ungeklärter Staatsangehörigkeit vom Volke der Palästinenser reisten
am 16.06.2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 06.07.2023
förmliche Asylanträge. Am 27.07.2023 wurden sie durch das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) zur Zulässigkeit ihres Antrages angehört. Sie
gaben an, in Italien einen Asylantrag gestellt und internationalen Schutz erhalten zu haben.
Die von einer Hilfsorganisation zur Verfügung gestellte Wohnung hätten sie nach einem
Jahr verlassen müssen. Der Antragsteller zu 1. habe keine Arbeit gefunden. Zudem müsse
der Antragsteller zu 2. medizinisch versorgt werden. Er habe in Italien aber keine gute
Behandlung erhalten.
Mit Bescheid vom 12.10.2023 lehnte das Bundesamt in Ziff. 1 die Asylanträge als
unzulässig ab. In Ziff. 2 stellte es fest, dass keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs.
5 und 7 S. 1 des AufenthG vorlägen. In Ziff. 3 wurde die Abschiebung nach Italien
angeordnet. In Ziff. 4 wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1
AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf den
Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen.
Hiergegen haben die Antragstellerin am 26.10.2023 Klage erhoben (6 K 2549/23) und
zugleich um Eilrechtsschutz nachgesucht. Aufgrund bestehender systemischer Mängel im
italienischen Aufnahme- und Asylsystem und im Umgang mit Inhabern eines Schutzstatus3
sei die Abschiebung wegen drohender Verletzung der Rechte aus Art. 3 ERMK
rechtswidrig. Italien sei kein sicherer Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a
AsylG. Dort bestehe auch für nichtvulnerable, arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte
die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4
GrCh respektive Art. 3 EMRK. Zunächst sei der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht eröffnet.
Auch sei selbst bei nicht mittellosen Personen der Zugang zu einer eigenen Unterkunft
nicht gegeben. Dies sei auch nicht durch Verweis auf staatliche oder nichtstaatliche
Akteure aufzufangen. Für in Italien anerkannte Schutzberechtigte seien bis auf Ausnahmen
keine staatlichen Unterstützungsleistungen vorgesehen. Eine Unterbringung in einer
Zweitaufnahmeeinrichtung sei nicht gewährleistet und biete auch nur eine Unterbringung
für sechs Monate.
Die Antragsgegnerin tritt dem Eilantrag entgegen und bezieht sich zur Begründung auf den
streitgegenständlichen Bescheid. Weiterhin stehe fest, dass im Hinblick auf das
Asylsystem in Italien keine systemischen Mängel vorlägen und auch nicht in absehbarer
Zeit zu erwarten seien. Es seien auch keine besonderen Gründe gegeben, die ein
Abschiebungsverbot begründen würden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den
Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten des Bundesamtes
verwiesen.
II.
1. Der Antrag hat Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die
aufschiebende Wirkung anordnen, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das
Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes
bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, das
öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung überwiegt. Dies richtet sich
maßgeblich nach den Erfolgsaussichten der Hauptsache.
Es bestehen nach summarischer Prüfung Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der
Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom 12.10.2023.
a) Die Antragsgegnerin ordnete die Abschiebung nach Italien gemäß §§ 34, 35 AsylG an,
begründet damit, dass Italien den Antragstellern bereits internationalen Schutz im Sinne4
des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entsprechend § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt habe. Dies
ergebe sich aus den Reiseausweisen der Antragsteller.
b) Die Unzulässigkeitsentscheidung erweist sich jedoch als unionsrechtswidrig. Dies ist
nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dann der Fall, wenn die
Lebensverhältnisse, die die Antragsteller als anerkannte Schutzberechtigte in Italien
erwarten würden, sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu erfahren
(Art. 3 EMRK entspricht Art. 4 GRC gem. Art. 52 Abs. 3 GRC, vgl. EuGH, Urteil vom
19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 91). In diesem Fall ist die Ablehnung eines
Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom
21.04.2020 – 1 C 4/19 –, juris Rn. 36; im Anschluss an: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – 2
C 297/17 u.a., Ibrahim –, juris Rn. 101). Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller
an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche
Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für
Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine
Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC
mit sich bringen, so setzt danach der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung
der in Kapitel III der Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein
anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Bei der Prüfung, ob Personen,
die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz beantragen, in
diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten
unvereinbar ist, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Aufgrund des Grundsatz des
gegenseitigen Vertrauens gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
die Vermutung, dass die Behandlung von Personen, die internationalen Schutz
beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Konvention und der Europäischen
Menschenrechtskonvention steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass
dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten
Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die
internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedsstaat in einer Weise behandelt
werden, die nicht mit ihren Grundrechten vereinbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019
– C-163/17, Jawo –, juris Rn.80 ff.; Urteil vom 19.03.2019 – C 297/17 –, juris Rn. 83 ff.).
Zwar nimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nach seinem Wortlaut nur darauf Bezug,
dass sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für
Asylantragsteller in dem nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat ergibt. Nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Überstellung eines Antragstellers5
in den zuständigen Mitgliedstaat jedoch in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen
ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der
Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung einer solchen Gefahr
ausgesetzt wird. Darüber hinaus ist es für die Anwendung des Art. 4 GRC gleichgültig, ob
es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen
Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den
zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre
(vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 87 ff.).
Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende
Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK (Art. 3 EMRK entspricht
Art. 4 GRC gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC, vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17,
Jawo –, juris Rn. 91), wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen,
die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre dann erreicht,
wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine
vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem
Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not
befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie
insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Brot, Bett,
Seife“, vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19
–, juris Rn. 5), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie
in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar
wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung
der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht
erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die
betreffende Person sich in solch einer schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH,
Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim –, juris Rn. 89 ff.; Urteil vom 19.03.2019 –
C-163/17, Jawo –, juris Rn. 91 ff.; BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 34/19 –, juris Rn.
19). Zugleich erkennt der Europäische Gerichtshof – in Übereinstimmung mit der Tarakhel-
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil
vom 04.11.2014 – 29217/12 –, juris) – an, dass die Schwelle der Erheblichkeit in Bezug
auf Personen mit besonderer Verletzbarkeit – sog. Vulnerable – schneller erreicht sein
kann, als bei Personen, die eine solche Verletzbarkeit nicht aufweisen (vgl. EuGH, Urteil
vom 19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 95; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17
u.a., Ibrahim –, juris Rn. 93). Im Rahmen der Prüfung, ob im konkret zu entscheidenden
Einzelfall das Mindestmaß an Schwere erreicht ist, sind daher stets die individuellen
Umstände und Faktoren des Betroffenen zu berücksichtigen wie etwa das Alter, das6
Geschlecht, der Gesundheitszustand, die Volkszugehörigkeit, die Ausbildung, das
Vermögen und die familiären und freundschaftlichen Verbindungen (vgl. OVG Saarland,
Beschluss vom 16.03.2020 – 2 A 324/19 –, juris Rn. 12). Im Falle von Vulnerablen muss
zudem gegebenenfalls eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung der
Zielstaatsbehörden eingeholt werden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom
10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 16; Stattgebender Kammerbeschluss vom
31.07.2018 – 2 BvR 714/18 –, Juris Rn. 19).
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Zuständigkeit für die Prüfung der
Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die
Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Das Asylsystem und die
Aufnahmebedingungen in Italien weisen systemische Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Abs. 2
Unterabs. 2 Dublin III-VO auf, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden
Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden
Dublin-Rückkehrern den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt
verweigern (vgl. hierzu insgesamt OVG NRW, Beschluss vom 05.07.2023 – 11 A
1722/22.A –, juris sowie VG Arnsberg, Urteil vom 24.01.2023 – 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 55
ff.; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 14.03.2023 – 22 K 6528/19.A -, juris Rn. 45 ff., und
Beschluss vom 08.05.2023 – 23 L 780/23.A -, juris Rn. 36 ff.).
Italien ist zur (Wieder-)Aufnahme der Antragsteller wie auch anderer Dublin-Rückkehrer
nicht bereit. Das Gericht geht mit dem Senat des OVG NRW in der zuvor zitierten
Entscheidung davon aus, dass es sich bei der im Dezember 2022 mitgeteilten Maßnahme
der italienischen Behörden nicht um ein vorübergehendes Aussetzen von Überstellungen,
sondern um die diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-
Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“ handelt.
Mit an alle Dublin-Units gerichtetem Rundschreiben vom 05.12.2022 führte die italienische
Dublin-Unit aus: „This is to inform you that due to suddenly appeared technical reasons
related to unavailability of reception facilities Member States are requested to temporarily
suspend transfers to Italy from tomorrow, with the exception of cases of family reunification
of unaccompanied minors. Further and more detailed information regarding the duration of
the suspension will follow.“ Mit weiterem Rundschreiben vom 07.12.2022 führte die
italienische Dublin-Unit aus: „I write following the previous communication on 5th
December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family
reunification of minors, due to the unavailability of reception facilities. At this regard,
considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform you7
about the need for a re-scheduling of the reception activities for third countries nationals,
also taking into account the lack of available reception places.“
Zunächst geht das Gericht davon aus, dass sich die Mitteilungen der italienischen
Behörden auf sämtliche Dublin-Rückkehrer, mithin auch auf den vorliegenden Fall einer
bereits Betroffenen, der bereits internationaler Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG
gewährt wurde (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), beziehen. Denn eine Differenzierung oder
anderweitige Erklärungen sind den Schreiben nicht entnehmbar und wurden auch in der
Folgezeit nicht abgegeben.
Die Schreiben der italienischen Behörden vom 05. und 07.12.2022 stellen sodann keine
bloßen Bitten um eine Aussetzung der Überstellungen dar, wodurch die Beklagte jedoch
nicht gehindert wäre, trotzdem Überstellungen durchzuführen (so aber VG Trier, Beschluss
vom 05.04.2023 – 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Aachen, Beschlüsse vom 22.03.2023 – 9 L
223/23.A – und vom 10.02.2023 – 9 L 93/23.A -, jeweils juris; vgl. aber nunmehr VG Aachen,
Beschluss vom 17.05.2023 – 9 L 379/23.A -, juris Rn. 12 ff.). Auch wenn in den Erklärungen
von einem „request“ gesprochen wird, so machen die Erklärungen im Übrigen deutlich,
dass Überstellungen nach Italien mangels Aufnahmemöglichkeiten („unavailability of
reception facilities“) nicht möglich seien. Auch die Beklagte hat in anderen Verfahren
ausgeführt, dass sie die Schreiben dahingehend verstehe, dass „Überstellungen im
Rahmen der Dublin-III-VO ab sofort zunächst nicht mehr angenommen“ werden (vgl. auch
OVG NRW, Beschluss vom 22.03.2023 – 11 A 335/23.A -, juris Rn. 29).
Dem entspricht es, dass sich die Bundesinnenministerin gemeinsam mit den zuständigen
Ministern von sechs weiteren Staaten zu einem „Joint Communiqué“ vom 08.03.2023,
abrufbar auf der Seite der Niederländischen Regierung:
https://www.rijksoverheid.nl/documenten/ publicaties/2023/03/08/joint-statement,
veranlasst gesehen hat, in dem es u. a. heißt: „They therefore reiterated the necessity of
applying the existing rules in good faith to provide for the necessary conditions to allow
Dublin transfers according to the existing standards … “, vgl. auch die
Presseberichterstattung zum Treffen der EU-Innenminister am 09.03.2023: etwa Tiroler
Tageszeitung, EU-Innenminister machen Druck auf Italien wegen Migration, 09.03.2023,
abrufbar unter https://www.tt.com/artikel/30848350/eu-innenminister-machen-druck-auf-
italien-wegen-migration, nach der der italienischen Regierung vorgeworfen werde, die
Dublin-Regeln einseitig aufgekündigt zu haben; Tagesspiegel, Faeser unter Druck:
Innenministerin verlangt Rückkehr zu Dublin-Regeln, 10.03.2023, abrufbar unter…
zu-dublin-regeln-9473264.html, wonach die Bundesinnenministerin, ohne Italien explizit zu8
erwähnen, für eine Rückkehr zu den Regeln des Dublin-Systems geworben habe; vgl. auch
L’Echo, L’Italie priée d’appliquer les règles de Dublin sur l’asile, 09.03.2023, abrufbar unter…
regles-de-dublin-sur-l-asile/10452810.html, wo u. a. Äußerungen des französischen
Innenministers zitiert werden, nach denen die Dublin III-VO mit bestimmten Staaten,
insbesondere Italien, nicht funktioniere; vgl. auch NZZ, Flüchtlingsaufnahme gestoppt: Was
steckt hinter Italiens Entscheidung?, 08.04.2023, abrufbar unter…
zurueck-ld.1733446.
Das Gericht schließt sich der Einschätzung des OVG NRW in seinem Beschluss vom
05.07.2023 auch dahingehend an, dass es sich auch nicht um eine lediglich
vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen handelt.
Die Rundschreiben benennen weder ein Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen
noch einen auch nur ungefähren oder voraussichtlichen Zeitrahmen. Seit acht Monaten ist
– trotz Ankündigung im Rundschreiben vom 05.12.2022 – keine weitere konkrete
Information zur Dauer der Aussetzung der Überstellungen erfolgt. Auch die
Antragsgegnerin hat weder in diesem noch in einem anderen Verfahren neue
Informationen mitgeteilt, aus denen konkrete Anhaltspunkte hergeleitet werden könnten,
Italien werde die Aussetzung der Überstellungen beenden (vgl. auch die Urteile des
niederländischen Raad van State – Afdeling bestuursrechtspraak – vom 26.04.2023,
ECLI:NL:RVS:2023:1654 und ECLI:NL:RVS:2023:1655, abrufbar unter…
returning/, in denen zur Kommunikation der italienischen mit den niederländischen
Behörden ausgeführt wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 04.01.2023
aufgefordert worden seien, die Überstellungen für Januar 2023 abzusagen, am 27.01.2023
sei eine solche Aufforderung für Überstellungen in der ersten Februarwoche erfolgt, am
07.02.2023 eine erneute einwöchige Aussetzung; seitdem habe es keine Information mehr
gegeben; a. A. Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 09.06.2023 – E-
2987/2023 -, in dem ohne weitere Begründung festgestellt wird, es handele sich beim
aktuellen Überstellungsstopp um ein temporäres Überstellungshindernis).
Auch die Justizministerin und das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Schweiz haben
bisher bei der Rücknahme von Flüchtlingen durch Italien keine hinreichenden Anzeichen
dafür gesehen, dass sich etwas bewegt (vgl. Tagesanzeiger, Baume-Schneider über
Flüchtlingsrücknahme: „Italiens Blockade wird Monate anhalten“, 04.05.2023, abrufbar
unter https://www.tagesanzeiger.ch/baume-schneider-zur-fluechtlingsruecknahme-
italiens-blockade-wird-monate-anhalten-745771683413; SEM, Italien: Dublin-9
Überstellungen und Rückübernahmeabkommen, 15.05.2023, abrufbar unter
https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html.). Dies hat sich
auch angesichts der nur „vagen Zusage“ Italiens gegenüber der Justizministerin der
Schweiz anlässlich eines bilateralen Treffens Ende Mai 2023, in „nächster Zeit“
Rückübernahmen wieder aufzunehmen, nicht geändert. Ausweislich des Artikels in der
Neuen Zürcher Zeitung vom 31.05.2023 hat Italien die Rückübernahme zwar in Aussicht
gestellt, „ohne dafür allerdings einen Zeitpunkt zu nennen“ (vgl. in-rom-ld.1740283).
Jedenfalls unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums von inzwischen acht
Monaten kann dem Vorgehen der italienischen Behörden ohne weitere konkrete
Information nichts dafür entnommen werden, ob und ggfs. wann Überstellungen wieder
ermöglicht werden sollen (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A –
, juris Rn. 10 f.). Angesichts dieses Zeitablaufs kann der Formulierung der Schreiben,
soweit sie von einer vorübergehenden Aussetzung sprechen, kein Gewicht (mehr)
beigemessen werden (vgl. etwa VG Köln, Beschluss vom 13.04.2023 – 26 L 403/23.A -,
juris Rn. 11; VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; a. A.
etwa VG Hamburg, Urteil vom 27.03.2023 – 9 A 1520/20 -, juris; VG Stuttgart, Beschluss
vom 22.06.2023 – A 1 K 2347/23 -; VG Osnabrück, Beschluss vom 12.04.2023 – 5 B 70/23
-, juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 14.03.2023 – 2 L 53/23.A -, juris).
Auch sofern teilweise vertreten wird, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien tatsächlich
nicht ausgelastet seien, so spricht das letztlich dafür, dass die Begründung für die
Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben ist. Sollte die Aussetzung der
Überstellungen damit nicht auf „technischen Gründen“ respektive der Auslastung des
Aufnahmesystems beruhen, sondern auf dem (politischen) Willen der italienischen
Behörden, so wäre in keiner Weise absehbar, ob, wann und unter welchen Bedingungen,
Überstellungen nach Italien respektive ein Zugang zum italienischen Asylverfahren für
Dublin-Rückkehrer wieder möglich sein werden (vgl. dazu insgesamt OVG NRW,
Beschluss vom 05.07.2023 sowie VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28.02.2023 – 1a L
180/23.A -, juris Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 LA 48/23 -, juris Rn.
21). Insofern führt die fehlende Übernahmebereitschaft Italiens mangels Zugangs der
Dublin-Rückkehrer zum Asylsystem faktisch zum Bestehen tatsächlicher systemischer
Mängel i. S. d. Art. 4 GRCh (a. A. Hessischer VGH, Beschluss vom 27.07.2023, 2 A 377/23,
juris).10
Die Tatsache, dass die Italienische Republik ggf. in anderen Verfahren weiterhin
Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteilt, führt ebenfalls nicht zu einer
anderen Einschätzung. Denn diese Erklärungen haben offensichtlich keinen Einfluss auf
die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens (vgl. VG Gießen, Beschluss vom
28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom
28.02.2023 – 1a L 180/23.A -, juris Rn. 8; a. A. etwa VG Würzburg, Urteil vom 28.02.2023
– W 1 K 22.50157 -, juris).
Aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens folgt nichts anderes. Denn dieser Grundsatz
ist in der derzeitigen Situation bereits durch die generelle Ablehnung der Annahme von
rückzuüberstellenden Asylsuchenden in Widerspruch zur Dublin III-VO entkräftet (vgl. Nds.
OVG, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 LA 48/23 -, juris Rn. 21; Raad van State – Afdeling
bestuursrechtspraak -, Urteile vom 26.04.2023 – ECLI:NL:RVS:2023:1654 -, Ziffer 4.3, und
– ECLI:NL:RVS:2023:1655 -, Ziffer 3.3).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gegenstandswertfestsetzung
in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf § 30 Abs. 1 S. 1 und
2 RVG.
Hinweis
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.
Xyz”
Wenn ich solche Entscheidungen lese, bekomme ich Verständnis für Länder wie Polen und Ungarn, in denen die Politik versucht, sich Einfluss auf die Zusammensetzung, Befugnisse und Arbeitsweise der Gerichte zu verschaffen..
Ich finde es unmöglich, dass eine kleine lokale Verwaltungsrichterin sich anmaßen darf zu entscheiden, ob Italien ein sicheres Herkunftsland ist und dann der von ihr verkündete Beschluss auch noch unanfechtbar ist. Bei slchen Entscheidungen braucht sich niemand zu wundern, wenn Bürger das Vertrauens in die staatlichen Institutionen verlieren und sich der AFD zuwenden.
Laut VG-Beschluss handelt es sich keineswegs um die einsame Entscheidung einer Bremer Richterin, sondern sie folgt nur der Rechtsprechung anderer deutscher und europäischer Gerichte. Mit zahlreichen Fundstellen wird darin belegt, dass Flüchtlinge in Italien offenbar nicht rechtstaatlich behandelt werden – auch wenn man dort gut Urlaub machen kann. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.