Dokumentation: Bremer Richterin über Italien

09.02.2024 2 Von Axel Schuller

Liebe Leserinnen und Leser, nachfolgend die Dokumentation zur Veranschaulichung, mit welcher Akribie eine Bremer Verwaltungsrichterin über eine Klage gegen die Ausweisungsanordnung des Bundesinnenministeriums durch zwei Palästinenser entschieden hat. Die unausgesprochene Logik des Urteils: Flüchtling, beantrage Asyl in Italien, mache dich anschließend auf den Weg nach Deutschland – und klage dann erfolgreich gegen deine Abschiebung durch das Bundesinnenministerium nach Italien. Dort musst du nicht hin, sondern darfst in Germanien bleiben.

Die Bremer Einzelrichterin legt für diese Denke den Grundstein. Sie teilte dem Bundesamt für Migration via Urteil nämlich mit, eine Abschiebung nach Italien komme nicht in Frage, weil das Land niemanden mehr aufnehmen wolle, der bereits zuvor in Italien um Asyl ersucht hatte. Punkt, Ende, Aus.

Hier nun das VG-Urteil:

Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen

6 V 2550/23

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

– Antragsteller

Prozessbevollmächtigte:

,

g e g e n

die Bundesrepublik Deutschland, vertr. d. d. Bundesministerin des Innern und Heimat,

diese vertreten durch den Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge,

Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg,

– Antragsgegnerin –2

hat das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen – 6. Kammer – durch die

Richterin am Verwaltungsgericht Xyz als Einzelrichterin am 13. Dezember 2023

beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller (6 K

2549/23) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des

Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.10.2023 wird

angeordnet.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die

Antragsgegnerin.

Der Gegenstandswert wird zum Zwecke der Kostenberechnung auf

4.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen ihre

Abschiebungsanordnung nach Italien.

Die Antragsteller mit ungeklärter Staatsangehörigkeit vom Volke der Palästinenser reisten

am 16.06.2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 06.07.2023

förmliche Asylanträge. Am 27.07.2023 wurden sie durch das Bundesamt für Migration und

Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) zur Zulässigkeit ihres Antrages angehört. Sie

gaben an, in Italien einen Asylantrag gestellt und internationalen Schutz erhalten zu haben.

Die von einer Hilfsorganisation zur Verfügung gestellte Wohnung hätten sie nach einem

Jahr verlassen müssen. Der Antragsteller zu 1. habe keine Arbeit gefunden. Zudem müsse

der Antragsteller zu 2. medizinisch versorgt werden. Er habe in Italien aber keine gute

Behandlung erhalten.

Mit Bescheid vom 12.10.2023 lehnte das Bundesamt in Ziff. 1 die Asylanträge als

unzulässig ab. In Ziff. 2 stellte es fest, dass keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs.

5 und 7 S. 1 des AufenthG vorlägen. In Ziff. 3 wurde die Abschiebung nach Italien

angeordnet. In Ziff. 4 wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1

AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf den

Inhalt des Bescheides wird Bezug genommen.

Hiergegen haben die Antragstellerin am 26.10.2023 Klage erhoben (6 K 2549/23) und

zugleich um Eilrechtsschutz nachgesucht. Aufgrund bestehender systemischer Mängel im

italienischen Aufnahme- und Asylsystem und im Umgang mit Inhabern eines Schutzstatus3

sei die Abschiebung wegen drohender Verletzung der Rechte aus Art. 3 ERMK

rechtswidrig. Italien sei kein sicherer Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a

AsylG. Dort bestehe auch für nichtvulnerable, arbeitsfähige anerkannte Schutzberechtigte

die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4

GrCh respektive Art. 3 EMRK. Zunächst sei der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht eröffnet.

Auch sei selbst bei nicht mittellosen Personen der Zugang zu einer eigenen Unterkunft

nicht gegeben. Dies sei auch nicht durch Verweis auf staatliche oder nichtstaatliche

Akteure aufzufangen. Für in Italien anerkannte Schutzberechtigte seien bis auf Ausnahmen

keine staatlichen Unterstützungsleistungen vorgesehen. Eine Unterbringung in einer

Zweitaufnahmeeinrichtung sei nicht gewährleistet und biete auch nur eine Unterbringung

für sechs Monate.

Die Antragsgegnerin tritt dem Eilantrag entgegen und bezieht sich zur Begründung auf den

streitgegenständlichen Bescheid. Weiterhin stehe fest, dass im Hinblick auf das

Asylsystem in Italien keine systemischen Mängel vorlägen und auch nicht in absehbarer

Zeit zu erwarten seien. Es seien auch keine besonderen Gründe gegeben, die ein

Abschiebungsverbot begründen würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den

Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten des Bundesamtes

verwiesen.

II.

1. Der Antrag hat Erfolg.

Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die

aufschiebende Wirkung anordnen, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das

Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes

bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, das

öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung überwiegt. Dies richtet sich

maßgeblich nach den Erfolgsaussichten der Hauptsache.

Es bestehen nach summarischer Prüfung Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der

Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom 12.10.2023.

a) Die Antragsgegnerin ordnete die Abschiebung nach Italien gemäß §§ 34, 35 AsylG an,

begründet damit, dass Italien den Antragstellern bereits internationalen Schutz im Sinne4

des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entsprechend § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt habe. Dies

ergebe sich aus den Reiseausweisen der Antragsteller.

b) Die Unzulässigkeitsentscheidung erweist sich jedoch als unionsrechtswidrig. Dies ist

nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dann der Fall, wenn die

Lebensverhältnisse, die die Antragsteller als anerkannte Schutzberechtigte in Italien

erwarten würden, sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder

erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu erfahren

(Art. 3 EMRK entspricht Art. 4 GRC gem. Art. 52 Abs. 3 GRC, vgl. EuGH, Urteil vom

19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 91). In diesem Fall ist die Ablehnung eines

Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom

21.04.2020 – 1 C 4/19 –, juris Rn. 36; im Anschluss an: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – 2

C 297/17 u.a., Ibrahim –, juris Rn. 101). Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller

an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche

Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für

Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine

Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC

mit sich bringen, so setzt danach der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung

der in Kapitel III der Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein

anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Bei der Prüfung, ob Personen,

die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz beantragen, in

diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten

unvereinbar ist, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Aufgrund des Grundsatz des

gegenseitigen Vertrauens gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems

die Vermutung, dass die Behandlung von Personen, die internationalen Schutz

beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta

der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Konvention und der Europäischen

Menschenrechtskonvention steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass

dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten

Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die

internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedsstaat in einer Weise behandelt

werden, die nicht mit ihren Grundrechten vereinbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019

– C-163/17, Jawo –, juris Rn.80 ff.; Urteil vom 19.03.2019 – C 297/17 –, juris Rn. 83 ff.).

Zwar nimmt Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nach seinem Wortlaut nur darauf Bezug,

dass sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung

aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für

Asylantragsteller in dem nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat ergibt. Nach der

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Überstellung eines Antragstellers5

in den zuständigen Mitgliedstaat jedoch in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen

ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der

Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung einer solchen Gefahr

ausgesetzt wird. Darüber hinaus ist es für die Anwendung des Art. 4 GRC gleichgültig, ob

es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen

Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den

zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre

(vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 87 ff.).

Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende

Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK (Art. 3 EMRK entspricht

Art. 4 GRC gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC, vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17,

Jawo –, juris Rn. 91), wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen,

die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre dann erreicht,

wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine

vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem

Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not

befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie

insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Brot, Bett,

Seife“, vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19

–, juris Rn. 5), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie

in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar

wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung

der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht

erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die

betreffende Person sich in solch einer schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer

unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH,

Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim –, juris Rn. 89 ff.; Urteil vom 19.03.2019 –

C-163/17, Jawo –, juris Rn. 91 ff.; BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 34/19 –, juris Rn.

19). Zugleich erkennt der Europäische Gerichtshof – in Übereinstimmung mit der Tarakhel-

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil

vom 04.11.2014 – 29217/12 –, juris) – an, dass die Schwelle der Erheblichkeit in Bezug

auf Personen mit besonderer Verletzbarkeit – sog. Vulnerable – schneller erreicht sein

kann, als bei Personen, die eine solche Verletzbarkeit nicht aufweisen (vgl. EuGH, Urteil

vom 19.03.2019 – C-163/17, Jawo –, juris Rn. 95; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17

u.a., Ibrahim –, juris Rn. 93). Im Rahmen der Prüfung, ob im konkret zu entscheidenden

Einzelfall das Mindestmaß an Schwere erreicht ist, sind daher stets die individuellen

Umstände und Faktoren des Betroffenen zu berücksichtigen wie etwa das Alter, das6

Geschlecht, der Gesundheitszustand, die Volkszugehörigkeit, die Ausbildung, das

Vermögen und die familiären und freundschaftlichen Verbindungen (vgl. OVG Saarland,

Beschluss vom 16.03.2020 – 2 A 324/19 –, juris Rn. 12). Im Falle von Vulnerablen muss

zudem gegebenenfalls eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung der

Zielstaatsbehörden eingeholt werden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom

10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 16; Stattgebender Kammerbeschluss vom

31.07.2018 – 2 BvR 714/18 –, Juris Rn. 19).

c) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Zuständigkeit für die Prüfung der

Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die

Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Das Asylsystem und die

Aufnahmebedingungen in Italien weisen systemische Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Abs. 2

Unterabs. 2 Dublin III-VO auf, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden

Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden

Dublin-Rückkehrern den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt

verweigern (vgl. hierzu insgesamt OVG NRW, Beschluss vom 05.07.2023 – 11 A

1722/22.A –, juris sowie VG Arnsberg, Urteil vom 24.01.2023 – 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 55

ff.; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 14.03.2023 – 22 K 6528/19.A -, juris Rn. 45 ff., und

Beschluss vom 08.05.2023 – 23 L 780/23.A -, juris Rn. 36 ff.).

Italien ist zur (Wieder-)Aufnahme der Antragsteller wie auch anderer Dublin-Rückkehrer

nicht bereit. Das Gericht geht mit dem Senat des OVG NRW in der zuvor zitierten

Entscheidung davon aus, dass es sich bei der im Dezember 2022 mitgeteilten Maßnahme

der italienischen Behörden nicht um ein vorübergehendes Aussetzen von Überstellungen,

sondern um die diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-

Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“ handelt.

Mit an alle Dublin-Units gerichtetem Rundschreiben vom 05.12.2022 führte die italienische

Dublin-Unit aus: „This is to inform you that due to suddenly appeared technical reasons

related to unavailability of reception facilities Member States are requested to temporarily

suspend transfers to Italy from tomorrow, with the exception of cases of family reunification

of unaccompanied minors. Further and more detailed information regarding the duration of

the suspension will follow.“ Mit weiterem Rundschreiben vom 07.12.2022 führte die

italienische Dublin-Unit aus: „I write following the previous communication on 5th

December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family

reunification of minors, due to the unavailability of reception facilities. At this regard,

considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform you7

about the need for a re-scheduling of the reception activities for third countries nationals,

also taking into account the lack of available reception places.“

Zunächst geht das Gericht davon aus, dass sich die Mitteilungen der italienischen

Behörden auf sämtliche Dublin-Rückkehrer, mithin auch auf den vorliegenden Fall einer

bereits Betroffenen, der bereits internationaler Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG

gewährt wurde (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), beziehen. Denn eine Differenzierung oder

anderweitige Erklärungen sind den Schreiben nicht entnehmbar und wurden auch in der

Folgezeit nicht abgegeben.

Die Schreiben der italienischen Behörden vom 05. und 07.12.2022 stellen sodann keine

bloßen Bitten um eine Aussetzung der Überstellungen dar, wodurch die Beklagte jedoch

nicht gehindert wäre, trotzdem Überstellungen durchzuführen (so aber VG Trier, Beschluss

vom 05.04.2023 – 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Aachen, Beschlüsse vom 22.03.2023 – 9 L

223/23.A – und vom 10.02.2023 – 9 L 93/23.A -, jeweils juris; vgl. aber nunmehr VG Aachen,

Beschluss vom 17.05.2023 – 9 L 379/23.A -, juris Rn. 12 ff.). Auch wenn in den Erklärungen

von einem „request“ gesprochen wird, so machen die Erklärungen im Übrigen deutlich,

dass Überstellungen nach Italien mangels Aufnahmemöglichkeiten („unavailability of

reception facilities“) nicht möglich seien. Auch die Beklagte hat in anderen Verfahren

ausgeführt, dass sie die Schreiben dahingehend verstehe, dass „Überstellungen im

Rahmen der Dublin-III-VO ab sofort zunächst nicht mehr angenommen“ werden (vgl. auch

OVG NRW, Beschluss vom 22.03.2023 – 11 A 335/23.A -, juris Rn. 29).

Dem entspricht es, dass sich die Bundesinnenministerin gemeinsam mit den zuständigen

Ministern von sechs weiteren Staaten zu einem „Joint Communiqué“ vom 08.03.2023,

abrufbar auf der Seite der Niederländischen Regierung:

https://www.rijksoverheid.nl/documenten/ publicaties/2023/03/08/joint-statement,

veranlasst gesehen hat, in dem es u. a. heißt: „They therefore reiterated the necessity of

applying the existing rules in good faith to provide for the necessary conditions to allow

Dublin transfers according to the existing standards … “, vgl. auch die

Presseberichterstattung zum Treffen der EU-Innenminister am 09.03.2023: etwa Tiroler

Tageszeitung, EU-Innenminister machen Druck auf Italien wegen Migration, 09.03.2023,

abrufbar unter https://www.tt.com/artikel/30848350/eu-innenminister-machen-druck-auf-

italien-wegen-migration, nach der der italienischen Regierung vorgeworfen werde, die

Dublin-Regeln einseitig aufgekündigt zu haben; Tagesspiegel, Faeser unter Druck:

Innenministerin verlangt Rückkehr zu Dublin-Regeln, 10.03.2023, abrufbar unter…

zu-dublin-regeln-9473264.html, wonach die Bundesinnenministerin, ohne Italien explizit zu8

erwähnen, für eine Rückkehr zu den Regeln des Dublin-Systems geworben habe; vgl. auch

L’Echo, L’Italie priée d’appliquer les règles de Dublin sur l’asile, 09.03.2023, abrufbar unter…

regles-de-dublin-sur-l-asile/10452810.html, wo u. a. Äußerungen des französischen

Innenministers zitiert werden, nach denen die Dublin III-VO mit bestimmten Staaten,

insbesondere Italien, nicht funktioniere; vgl. auch NZZ, Flüchtlingsaufnahme gestoppt: Was

steckt hinter Italiens Entscheidung?, 08.04.2023, abrufbar unter…

zurueck-ld.1733446.

Das Gericht schließt sich der Einschätzung des OVG NRW in seinem Beschluss vom

05.07.2023 auch dahingehend an, dass es sich auch nicht um eine lediglich

vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen handelt.

Die Rundschreiben benennen weder ein Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen

noch einen auch nur ungefähren oder voraussichtlichen Zeitrahmen. Seit acht Monaten ist

– trotz Ankündigung im Rundschreiben vom 05.12.2022 – keine weitere konkrete

Information zur Dauer der Aussetzung der Überstellungen erfolgt. Auch die

Antragsgegnerin hat weder in diesem noch in einem anderen Verfahren neue

Informationen mitgeteilt, aus denen konkrete Anhaltspunkte hergeleitet werden könnten,

Italien werde die Aussetzung der Überstellungen beenden (vgl. auch die Urteile des

niederländischen Raad van State – Afdeling bestuursrechtspraak – vom 26.04.2023,

ECLI:NL:RVS:2023:1654 und ECLI:NL:RVS:2023:1655, abrufbar unter…

returning/, in denen zur Kommunikation der italienischen mit den niederländischen

Behörden ausgeführt wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 04.01.2023

aufgefordert worden seien, die Überstellungen für Januar 2023 abzusagen, am 27.01.2023

sei eine solche Aufforderung für Überstellungen in der ersten Februarwoche erfolgt, am

07.02.2023 eine erneute einwöchige Aussetzung; seitdem habe es keine Information mehr

gegeben; a. A. Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 09.06.2023 – E-

2987/2023 -, in dem ohne weitere Begründung festgestellt wird, es handele sich beim

aktuellen Überstellungsstopp um ein temporäres Überstellungshindernis).

Auch die Justizministerin und das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Schweiz haben

bisher bei der Rücknahme von Flüchtlingen durch Italien keine hinreichenden Anzeichen

dafür gesehen, dass sich etwas bewegt (vgl. Tagesanzeiger, Baume-Schneider über

Flüchtlingsrücknahme: „Italiens Blockade wird Monate anhalten“, 04.05.2023, abrufbar

unter https://www.tagesanzeiger.ch/baume-schneider-zur-fluechtlingsruecknahme-

italiens-blockade-wird-monate-anhalten-745771683413; SEM, Italien: Dublin-9

Überstellungen und Rückübernahmeabkommen, 15.05.2023, abrufbar unter

https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html.). Dies hat sich

auch angesichts der nur „vagen Zusage“ Italiens gegenüber der Justizministerin der

Schweiz anlässlich eines bilateralen Treffens Ende Mai 2023, in „nächster Zeit“

Rückübernahmen wieder aufzunehmen, nicht geändert. Ausweislich des Artikels in der

Neuen Zürcher Zeitung vom 31.05.2023 hat Italien die Rückübernahme zwar in Aussicht

gestellt, „ohne dafür allerdings einen Zeitpunkt zu nennen“ (vgl. in-rom-ld.1740283).

Jedenfalls unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums von inzwischen acht

Monaten kann dem Vorgehen der italienischen Behörden ohne weitere konkrete

Information nichts dafür entnommen werden, ob und ggfs. wann Überstellungen wieder

ermöglicht werden sollen (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A –

, juris Rn. 10 f.). Angesichts dieses Zeitablaufs kann der Formulierung der Schreiben,

soweit sie von einer vorübergehenden Aussetzung sprechen, kein Gewicht (mehr)

beigemessen werden (vgl. etwa VG Köln, Beschluss vom 13.04.2023 – 26 L 403/23.A -,

juris Rn. 11; VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; a. A.

etwa VG Hamburg, Urteil vom 27.03.2023 – 9 A 1520/20 -, juris; VG Stuttgart, Beschluss

vom 22.06.2023 – A 1 K 2347/23 -; VG Osnabrück, Beschluss vom 12.04.2023 – 5 B 70/23

-, juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 14.03.2023 – 2 L 53/23.A -, juris).

Auch sofern teilweise vertreten wird, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien tatsächlich

nicht ausgelastet seien, so spricht das letztlich dafür, dass die Begründung für die

Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben ist. Sollte die Aussetzung der

Überstellungen damit nicht auf „technischen Gründen“ respektive der Auslastung des

Aufnahmesystems beruhen, sondern auf dem (politischen) Willen der italienischen

Behörden, so wäre in keiner Weise absehbar, ob, wann und unter welchen Bedingungen,

Überstellungen nach Italien respektive ein Zugang zum italienischen Asylverfahren für

Dublin-Rückkehrer wieder möglich sein werden (vgl. dazu insgesamt OVG NRW,

Beschluss vom 05.07.2023 sowie VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28.02.2023 – 1a L

180/23.A -, juris Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 LA 48/23 -, juris Rn.

21). Insofern führt die fehlende Übernahmebereitschaft Italiens mangels Zugangs der

Dublin-Rückkehrer zum Asylsystem faktisch zum Bestehen tatsächlicher systemischer

Mängel i. S. d. Art. 4 GRCh (a. A. Hessischer VGH, Beschluss vom 27.07.2023, 2 A 377/23,

juris).10

Die Tatsache, dass die Italienische Republik ggf. in anderen Verfahren weiterhin

Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteilt, führt ebenfalls nicht zu einer

anderen Einschätzung. Denn diese Erklärungen haben offensichtlich keinen Einfluss auf

die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens (vgl. VG Gießen, Beschluss vom

28.03.2023 – 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom

28.02.2023 – 1a L 180/23.A -, juris Rn. 8; a. A. etwa VG Würzburg, Urteil vom 28.02.2023

– W 1 K 22.50157 -, juris).

Aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens folgt nichts anderes. Denn dieser Grundsatz

ist in der derzeitigen Situation bereits durch die generelle Ablehnung der Annahme von

rückzuüberstellenden Asylsuchenden in Widerspruch zur Dublin III-VO entkräftet (vgl. Nds.

OVG, Beschluss vom 26.04.2023 – 10 LA 48/23 -, juris Rn. 21; Raad van State – Afdeling

bestuursrechtspraak -, Urteile vom 26.04.2023 – ECLI:NL:RVS:2023:1654 -, Ziffer 4.3, und

– ECLI:NL:RVS:2023:1655 -, Ziffer 3.3).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gegenstandswertfestsetzung

in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf § 30 Abs. 1 S. 1 und

2 RVG.

Hinweis

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

Xyz”